Multiversale Rekonvaleszenz oder »Der Tod gibt dem Leben Bedeutung« – Scott Derricksons »Doctor Strange«
Was ist Zeit? – Hat sie ein ihr eigenes Wesen? – Kann es etwas »jenseits der Zeit« geben? – Eine Existenz? – Ein Sein? – Eine Dimension? – Mehrere Dimensionen? – Ein Universum? – Ein Multiversum? – Das sind nicht nur sehr spannende Fragen, die in der Philosophie und der Theologie schon seit der Antike gestellt werden, sondern es sind auch sehr moderne, zeitgemäße Fragen, die sich wunderbar in die von dem Physiker Hugh Everett III. (1930-1982) im Jahr 1957 im Rahmen der Quantenmechanik initiierte Multiversum-Theorie (Viele-Welten-Interpretation) einfügen lassen und dort sogar Antwortmöglichkeiten erfahren.
Die Unterhaltungsindustrie, die heutzutage nicht mehr nur auf der klassischen Literatur und ihren Genres basiert, sondern eben oft auch auf den Comics dieser Zeit, transportiert die Ideen und Weltanschauungstheorien nun zeitversetzt in die aktuelle Gegenwart, die vorher im Rahmen der Science-Fiction und der Phantastik weiterentwickelt, konkretisiert und eben auch erst einmal thematisiert wurden. Und da bildet auch der gleichnamige Film des US-amerikanischen Drehbuchautors und Regisseurs Scott Derrickson (*1977) über den Magier wider Willen Dr. Steven Strange keine Ausnahme.
»Dr. Seltsam« (Benedict Cumberbatch, *1976) gehört, wie schon sein Name suggeriert, zu den »seltsamsten« Gestalten des Marvel Cinematic Universe. Das liegt zunächst einmal darin begründet, dass er sich, im Gegensatz zu den übrigen Helden, die sich ja als »Avengers (Die Rächer)« zusammengetan haben, um die Welt vor den physischen Gefahren zu schützen, gegen alle mystischen Bedrohungen und magischen Entitäten stellt, die die Erde erobern und die Menschheit versklaven wollen. Was läge da näher, als einen renommierten, erfolgreichen Arzt zu nehmen, der als Chirurg unglaublich schwierige Operationen mit spielerischer Leichtigkeit meistert. Denn wohin gehen wir, wenn’s wehtut? Wer hilft – sprich: heilt – uns? Richtig. Der Onkel Doktor.
Dass dieser Doktor ein überheblicher, selbstgefälliger und grenzenlos arroganter Sack zu sein scheint, der sich im vermeintlich eigenen Ruhmeslicht zu sonnen pflegt, macht ihn da nur um so sympathischer, da er die niedrigsten menschlichen Schwächen in Vollendung zur Schau stellt, hinter dieser Fassade aber ein unglaublich verletztlicher Zeitgenosse ist, der sich dem Hypokratischen Eid bedingungslos unterordnet. Das rechtfertigt natürlich in keinster Weise die Art, wie er mit Frauen umgeht, vor allem mit der eigenen Freundin oder auch Nichtfreundin Christine Palmer (Rachel McAdams, *1978).
Stephen Strange, der auf seinen Doktortitel vehement besteht – »Doktor Strange!« – »Mr. Doktor?« – »Es ist Strange!« – »Mag sein. Wer will das beurteilen?« – wird eines Tages aufgrund eines Autounfalls, den er selbst verschuldet hat – im Übrigen ist das eine herrliche, äußerst gelungene Warnung vor dem, was passieren kann, wenn man während der Autofahrt mit dem Smartphone spielt – aus seinem bisherigen, scheinbar perfekten Leben gerissen. Seine Hände, seine Werkzeuge, Garanten seines Erfolgs, werden nachhaltig so beschädigt, dass er den Beruf des Chirurgen, in dem er so geglänzt hat, nie mehr ausüben kann. Doch damit findet er sich nicht ab, versucht alles, um seine Hände wieder reparieren zu lassen, denn er sieht in einem anderen Dasein, einer anderen Lebensweise keinen Sinn.
Auf seiner Suche kommt er an einen Ort namens Kamar-Taj in Nepal, an dem er von einer relativ unsterblichen Meisterin (Tilda Swinton, *1960), die nur »die Älteste« genannt wird, in die Geheimnisse der Mystik und der Magie eingewiesen und darin unterrichtet wird. Er freundet sich mit Mordo (Chiwetel Ejiofor, *1977) an, einem Meister – die Verwendung dieses Titels klingt verdächtig nach »Meister Jedi« –, dessen Fürsprache ihm das dortige Studium erst ermöglicht. Dass der Name Mordo – erinnert verdächtig an »Mordred« aus der Artus-Epik, »Mordor« aus Tolkiens »Herrn der Ringe« oder sogar an »Mord« – trotz allem nichts Gutes verheißt, sorgt für eine gewisse Erwartungshaltung.
Und so nimmt die klassische Heldenreise nach Joseph Campbell (1904-1987) und Christopher Vogler (*1949) ihren Lauf. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hilft ihm seine angeborene Fähigkeit vermittels eines fotografischen Gedächtnisses, durch beständiges »Lernen und Üben, und das über viele Jahre« die Schwelle zu einem neuen Leben in einem neuen Realitätsempfinden zu überschreiten und seinen »Geist davon zu überzeugen«, dass Dinge möglich sind, die den Gesetzen der Physik absolut widersprechen. Natürlich gibt es auch die üblichen Feinde. Da wäre ein abtrünniger Schüler der Ältesten, Meister Kaecilius (Mads Mikkelsen, *1965), der sich, samt seinen Schülern, von einem mächtigen Wesen blenden lässt, das ihm ein »interdimensionales New-Age-Utopia« verspricht, und natürlich dieses mächtige Wesen namens Dormammu selbst.
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Quelle |
Diese Umdeutungen passen aber sehr gut zu jener hochinteressanten Mixtur aus asiatischer Mystik und Weisheitslehre und westlich-religiösen Versatzstücken, die in »Doctor Strange« eine interessante und durchaus ausbaufähige Symbiose eingehen und dem Film so etwas bisher nie Dagewesenes und Neues angedeihen lassen. Die Sehnsucht nach dem ewigen Leben ist die treibende Kraft im Film. Die großen Bösewichte schöpfen aus dieser Sehnsucht ihre Antriebskraft und selbst die Älteste kann sich dem nicht wirklich und ganz entziehen. Sie lehrt Strange, dass wahre Kontrolle aus der Aufgabe von Kontrolle entsteht, dass die Absicht, alles kontrollieren zu können, eine reine Illusion ist. Sie entlarvt durch diese Paradoxa seine Arroganz als schlichte permanente Versagensangst und macht ihm schließlich und endlich durch ihr eigenes Handeln klar, dass man manchmal die Regeln brechen muss, um das Richtige zu tun. Auch den Umgang mit dem Tod lehrt sie ihn, denn der Tod, so ihre Einsicht, gibt dem Leben erst die wahre Bedeutung, den Sinn, die Erfüllung, die durch nichts sonst erklärt werden kann. Schließlich ist der Film auch eine Auslegung und Interpretation des Symbols Weg in all seinen Facetten und Möglichkeiten. Jeder Mensch hat seinen eigenen Weg, den er finden, erkennen und schließlich gehen muss, um sich selbst und damit den Sinn seines Daseins ergründen und erfüllen zu können.
Fazit: Marvel ist da mal wieder ein rundum gelungener Film geglückt, der zum einen neue phantastische Welten eröffnet, das Bewusstsein erweitert, spielerisch die Grundlagen der Quantenphysik erklärt, tolle schauspielerische Leistungen mit interessanten, tiefgründigen Charakteren und einem von überraschenden Wendungen nur so strotzenden Plot verknüpft und einfach Lust auf mehr macht. Außerdem bringt Doctor Strange mit dem Mystisch-Unbewussten neben dem Wissenschaftlich-Logischen und dem Mythologischen eine neue Facette ein, die so den Marvel-Filmen bisher fehlte. So macht ins Kino gehen endlich wieder Spaß. Ich selbst habe den Film zweimal im Kino angesehen und das kommt wirklich selten vor. Man wird nicht für blöd verkauft, fühlt sich aber auch nicht wie ein Student im Vorlesungssaal einer Universität. Man darf also gespannt sein, wie es weitergehen wird, und weitergehen wird es, denn echte Marvel-Fans bleiben ja bis zum Ende sitzen, bis zum absoluten Ende, nicht wahr?
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