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Maß - Mitte - Verzicht: Fiktive Rede vor dem deutschen Bundestag

Manchmal träume ich davon, im Bundestag zu stehen. Nicht als Abgeordneter, nicht als Parteisoldat, sondern als Bürger – als jemand, der in schlichter Kleidung das Rednerpult betritt, während dröhnende Zwischenrufe langsam verstummen. 

In diesem Traum sage ich, was gesagt werden muss. Ohne Schaum vor dem Mund. Ohne Unterwerfung. Ich spreche von dem, was uns fehlt, nämlich Maß - Mitte - Verzicht. 

Diese Rede, die ich in einem solchen Traum halte, basiert auf der Sorge, dass wir vergessen, was Demokratie eigentlich ist, was sie bedeutet, wem sie gehört und wem nicht. 

Ich betrete das Hohe Haus, verbeuge mich vor dem, was einmal war, und begebe mich ans Pult. Es ist still. Kein Zwischenruf. Noch nicht. Ich schaue mich um, blicke in die Gesichter der Anwesenden, hebe den Blick zu den Zuschauerntribünen, die prall gefüllt sind und aus den Nähten zu platzen drohen. Dann ordne ich mein Manuskript und beginne:


Hohes Haus, 

Maß – Mitte – Verzicht. 

Diese drei Worte stammen nicht aus einem Parteiprogramm, nicht aus einer Denkfabrik - einem sogenannten Think Tank, nicht aus einer Image-Agentur. Sie stammen von Johann Wolfgang von Goethe. Er legte sie seiner Iphigenie in den Mund, einer Frau, die sich in der Fremde befand, im Zwiespalt zwischen Herkunft und Humanität gefangen. Und genau dort stehen wir heute auch - in einer vergleichbaren Situation. 

Sie werden es nicht gerne hören: Ich bin nicht hier, um Ihnen zu schmeicheln. Ich bin hier, weil ich Sie daran erinnern will, was Sie einmal waren und was Sie hätten sein sollen. 

Sie sind nicht das Gewissen der Nation. Sie sind nicht die Stimme der Vernunft. Sie sind nicht die moralische Instanz über dem Volk. Sie sind seine Vertreter, seine Diener, und mit Verlaub - seine Angestellten. 

Ein Angestellter, der seinem Arbeitgeber Vorschriften macht, ihn erziehen, bevormunden will oder gar verachtet, hat seinen Arbeitsauftrag nicht verstanden – sondern verwirkt. Er hat auch keinerlei Pflichtbewusstsein, von Anstand möchte ich gar nicht erst sprechen. 

Sie werfen mit dem Wort »Demokratie« um sich, als sei es ein Schutzschild. Oder deutlicher: Sie missbrauchen dieses Wort als rhetorische Barriere, hinter der Sie Ihre ideologisch verbrämten Konzepte vor jedweder Art von Kritik bewahren wollen. Demokratie ist aber kein Zauberwort. Sie ist kein Bollwerk gegen Andersdenkende. Sie ist kein moralischer Passierschein. Demokratie ist ein Versprechen, eine Form der Selbstregierung – oder sie ist gar nichts. 

Und niemand – hören Sie mir endlich zu und legen Sie das Smartphone weg! – niemand besitzt sie. Auch nicht Sie. Demokratie gehört nämlich nicht einer Person, einer Gruppe oder gar einer Partei, Demokratie ist eine aus der historischen Erfahrung heraus gewachsene Beschreibung eines Zustandes, für den man sich bewusst entschieden hat. Werfen Sie einen Blick zurück in die Geschichte. Studieren Sie die attische Polis – oder wenigstens das, was sie uns sagen wollte. 

Sie sprechen von »wehrhafter« Demokratie und meinen damit oft nichts anderes als Ihre eigene Unfehlbarkeit. Aber Demokratie ist nicht wehrhaft. Sie ist - im Gegenteil - äußerst verletzlich. Und sie setzt voraus, dass man sie aushält. Auch dann, wenn es weh tut. Missverstehen Sie Ideologie nicht als Demokratie. 

Sie haben dieses Hohe Haus erst betreten können, nachdem sie einen Eid auf das Grundgesetz geleistet haben, also quasi auf unsere Verfassung. Sie haben diesen Eid weder auf eine Partei oder auf ein Narrativ geleistet. Auch nicht auf ein bestimmtes Weltbild. Sie haben ihn auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung geleistet – das heißt: auf den Zweifel. Auf den Kompromiss. Auf das Maß. 

Aber wo, so frage ich Sie, ist das Maß geblieben? Wo die Mitte? Wo der Verzicht? 

Der Verzicht auf Rechthaberei, auf moralische Erpressung, auf den ständigen Drang, dem Volk vorzuschreiben, wie es zu leben, zu sprechen und zu denken habe. 

Sie wollen einen Staat, der sich auf Sitte, Moral und ein (christliches) Wertesystem gründet? Dann leben Sie es den Menschen vor. Seien Sie Beispiel und Vorbild, zwar integer und konsequent, aber durchaus menschlich. 

Sie wollen Vertrauen? Dann verdienen Sie es sich durch Ehrlichkeit und treten Sie zurück, wenn Sie versagt haben. 

Sie wollen Anerkennung? Dann dienen Sie, statt zu herrschen. Teilen Sie nicht, um zu herrschen, gehen Sie keine faulen Kompromisse ein. 

Denn das ist es, was uns fehlt: Diener mit Charakter. Menschen, die Verantwortung tragen können, weil sie wissen, was es heißt, sich selbst zurückzunehmen. Wir brauchen keine Technokraten, keine Bürokraten und schon gar keine Poser. Wir brauchen keinen Partei-Klüngel, keine Ausbeuter und Kriminelle, die sich unerlaubt an ihren Landsleuten bereichern. 

Der Staat gehört nicht Ihnen. Er gehört uns allen. Und die Demokratie ist nicht Ihre Verteidigungslinie. Sie ist unser zerbrechliches Gemeinwesen. Und dieses wird nicht von denen geschützt, die am lautesten rufen – sondern von denen, die Maß halten, in der Mitte stehen und verzichten können. 

Lassen Sie dieses Hohe Haus wieder ein solches werden. Kein Debattierklub für Eitelkeit, kein Empörungstheater und schon gar kein politischer Fight Club, in dem es nur noch darum geht, den Gegner ausbluten zu lassen. Erweisen Sie diesem Haus und damit diesem Land die gebührende Ehre. Stellen Sie Glaubwürdigkeit und Vertrauen wieder her. 

Wenn Sie hier sprechen, dann tun Sie es mit Würde. Tun Sie es mit Wissen. Tun Sie es mit Respekt und Verantwortungsgefühl gegenüber der Geschichte dieses Landes. 

Und wenn Ihnen das Maß, die Mitte und der Verzicht fremd geworden sind – dann hören Sie lieber zu. 

Schweigen ist in der Demokratie kein Makel – wohl aber das Reden ohne Erkenntnis. 

Vielen Dank.


Ich schließe mein Manuskript, werfe einen letzten Blick in die Runde, nicke – und verlasse das Pult. Keiner wagt es, zu klatschen. Noch nicht. 

Warum ich das hier veröffentliche? 

Weil ich glaube, dass Demokratie mehr ist als ein System. Sie ist ein Tonfall. Eine Haltung. Eine Frage. Und vielleicht hilft es, diese Frage einmal nicht parteipolitisch zu beantworten – sondern als Mensch, der sich erinnert, was »Herrschaft des Volkes« eigentlich heißen sollte und was es einmal gewesen ist. 

Ich freue mich auf regen Austausch in den Kommentaren.
 

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