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Zur Wiederentdeckung eines alten Begriffs – »Jenseits der Ironie. Dialoge der Barmherzigkeit«

Barmherzigkeit. Nicht nur ein Wort, ein Begriff, vielmehr eine Lebenshaltung, ein Wert, eine Tugend, die eingeübt werden will. Begreift man Barmherzigkeit etymologisch, so steckt das mittelhochdeutsche »Erbarmen« darin, also das »Ergriffen sein bis zum Herz«. Barmherzigkeit ist aber auch ein Indikator für die Asymmetrie des Seins, die sich darin ausdrückt, dass es Menschen gibt, die Mittel besitzen und andere, die nichts haben. Der Barmherzige muss sich aber auch in Demut üben, denn sonst verführt ihn Barmherzigkeit zu Stolz. Jenes »Samariterdilemma« zeigt aber wiederum auch die alltägliche Seite der Barmherzigkeit auf: das Mitgefühl. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld, dass die Zivilgesellschaft auffordert, sich viel stärker in die Gesamtgesellschaft einzubringen, die ja durch und durch eine Leistungsgesellschaft ist, deren Grundlage der Individualismus bildet. Der »Gutmensch« wird ironisch verändert, vor allem aber durch Vertreter einer »professionellen« Barmherzigkeit wie die Caritas, die Diakonie und den Samariterbund.

Thomas Menges
Beate Glinski-Krause
Prof. Dr. Dr. Holger Zaborowski
Martin W. Ramb
Mit diesen komplexen Zusammenhängen rund um den brandaktuellen Versuch einer Neuentdeckung eines sehr alten Begriffs, befassen sich die vierzig Beiträge des neuen Buchs »Jenseits der Ironie. Dialoge der Barmherzigkeit«, das, herausgegeben von Martin W. Ramb und Holger Zaborowski, soeben im Wallstein Verlag (=> Verlagshomepage) erschienen ist. Am Sonntag, 25. September 2016, wurde das Werk in der evangelischen Kirche in Höhr-Grenzhausen im Rahmen einer Veranstaltung des Formates »Denkbares. Begegnungen mit Menschen und Büchern« vorgestellt. Ganz im Sinne des Titels waren die beiden Herausgeber und die Autorin Beate Glinski-Krause, die eigens aus Frankfurt angereist war, erschienen, um im Rahmen eines Dialogs, den Thomas Menges moderierte und der von der Gastgeberin, Pfarrerin Monika Christ, trefflich eingeleitet und den Geschwistern Franziska und Christina Dörschel mit der Klarinette musikalisch eingerahmt wurde, miteinander über den scheinbaren Widerspruch zu diskutieren, den wiederum der Titel aufwirft: Was hat Barmherzigkeit mit Ironie zu tun?

Monika Christ
Franziska und Christina Dörschel





Ironie (altgriech. εἰρωνεία eirōneía = Verstellung, Vortäuschung) hat zwei Seiten, eine menschliche und eine beißende, spöttische. Die Ironie, die hier gemeint ist, ist eine distanzierte Ironie, eine, die mit allem nichts zu tun haben möchte. Und da Barmherzigkeit immer, nach Martin Buber (1878-1965), dialogisch gedacht werden muss, weil sie das Verhältnis von Ich und Du auf besondere Weise thematisiert, ist Barmherzigkeit in der Tat »Jenseits der Ironie«, denn der Dialog ist etwas, das mit allem direkt zu tun hat.






Die einzelnen Texte der vierzig Autoren, unter denen sich so renommierte Namen wie Martin Walser (*1927), Ulla Hahn (*1945) und Patrick Roth (*1953) befinden, sind irgendwie durch einen roten Faden miteinander verbunden, der sich als Dialog um Begriffe wie Soziale Gerechtigkeit, Solidarität, Füreinander da sein, Herz zeigen, usw. manifestiert. Es sind Texte unterschiedlichster Gattungen und Themen. Selten hat wohl ein Sammelband mit seinen um einen Begriff kreisenden Beiträgen so viel Spaß gemacht und so viel Anregendes geboten, obwohl es »Jenseits der Ironie« auf den ersten Blick nichts zu Lachen gibt.




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