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Vom Pathos des Erzeugens – Karl May in den 60er Jahren – Tag 1 »eines Symposiums für Karl May«







Die 1960er Jahre! Was für eine Zeit! Die Jahre des Wirtschaftswunders zwischen der trügerischen gutbürgerlichen Familienidylle eines Heinz Erhardt (1909-1979) und der zur hüllenlosen Freiheit strebenden sexuellen Aufklärung eines Oswalt Kolle (1928-2010) und einer Beate Uhse (1919-2001)! Das Jahrzehnt, das mit dem beklagenswerten Mauerbau (1961) beginnt, der Deutschland in zwei Hälften spaltet, und mit der triumphalen ersten Mondlandung (1969) endet! Das Jahrzehnt, dass die Geburt von Perry Rhodan (1961), der größten Science-Fiction-Serie der Welt, und dem heute so beliebten Star-Trek-Franchise (1966) gesehen hat und das in großer Gelassenheit dem technischen Fortschritt zusieht und in zunehmendem Maße immer mehr Luxusgüter produziert hat! Das Jahrzehnt der Revolutionen, sowohl auf der politischen und gesellschaftlichen als auch auf der kulturellen Ebene! Ein Dezennium der kollektiven theologisch-philosophisch-ethischen Horizontausweitung respektive popkultureller Ausdrucksmöglichkeiten und Wertevorstellungen!







Inmitten dieser unruhigen und doch so spannenden Epoche kommt der zirka fünfzig Jahre vorher verstorbene deutsche Schriftsteller Karl May (1842-1912) unerwartet zu neuem Ruhm. »Der Spiegel« bringt anlässlich seines 50. Todestages eine Titelgeschichte über ihn, in atemberaubenden Bildern werden im Kino den so verehrten Kindheitsträumen ganzer Generationen Winnetou und Old Shatterhand in den Schauspielern Pierre Brice (1929-2015) und Lex Barker (1919-1973) ein einzigartiges beseeltes Antlitz verliehen, womit eine ungeheuer erfolgreiche Karl-May-Filmwelle über Deutschland hinwegschwappt, der deutsche Schriftsteller Arno Schmidt (1914-1979) attestiert May eine latente Homosexualität, die Comicwelt entdeckt Karl May für sich, der Bamberger Karl-May-Verlag (=> Homepage) ist auf einem absoluten Höhepunkt seiner Buchproduktion und last but not least konstituiert sich die Karl-May-Gesellschaft (=> Homepage) als gemeinnütziger literarischer Verein.







Dies alles sind gute Gründe, Karl May ein ein »Gastmahl« zu widmen, eine »Tischgesellschaft«, eine wissenschaftliche Konferenz, die unter dem Titel »Abenteuer zwischen Wirtschaftswunder und Rebellion – Karl May in den 60er Jahren« mit dem heutigen Tag beginnt und bis Sonntag andauert. Federführend ausgerichtet wird dieses »Symposium für Karl May« von Dr. Johannes Zeilinger (1948), dem 1. Vorsitzenden der Karl-May-Gesellschaft e.V. »Vater der Idee« ist Malte Ristau (Berlin), die nötigen Kontakte stellte Prof. Dr. phil. Helmut Schmiedt (*1950, Köln) her. Ebenso könnte der Ort gar nicht passender gefunden werden: Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, dass nicht nur eine Dauerausstellung mit dem Schwerpunkt 60er Jahre vorweisen kann, sondern überdies auch noch eine neue aktuelle Ausstellung mit dem Titel »Inszeniert. Deutsche Geschichte im Spielfilm« anbietet.








Eingeleitet wird der heutige erste Tag durch Führungen durch die Dauerausstellung und die »Inszeniert«-Ausstellung für interessierte Besucher des Symposiums. Offiziell eröffnet dann um 17:30 Uhr der Präsident der Stiftung des Hauses der Geschichte Prof. Dr. Hans Walter Hütter (*1954) die Veranstaltung, indem er mit seinen eigenen Jugenderinnerungen auch diejenigen der zirka 100 Anwesenden an die geliebte Jugendlektüre wiederbelebt. Dr. Johannes Zeilinger wendet sich anschließend mit dankbaren Worten an die Programmreferentin Katrin Jackenkroll für die freundliche und professionelle Unterstützung in der Vorbereitung und Ausrichtung, sodann natürlich an die Ideengeber und all die helfenden Hände, die eine solche Veranstaltung erst ermöglichen.








Das erste Highlight allerdings, der erste Höhepunkt des Symposiums, ist der Vortrag von Prof. Dr. Gert Ueding (*1942), Nachfolger des deutschen Altphilologen, Literaturhistorikers, Schriftstellers, Kritikers und Übersetzers Walter Jens (1923-2013) in Tübingen und Inhaber des bislang einzigen Lehrstuhls für Rhetorik in Deutschland, der über eine Stunde lang unter dem Topos »Glücksweg durch Nacht zum Licht. Ernst Bloch und Karl May« frisch und mitreißend über die Beziehung seines verehrten akademischen Lehrers, des neomarxistischen Philosophen Ernst Bloch (1885-1977), zu Karl May und dessen »Pathos des Erzeugens« doziert, das Ganze mit ebenso witzigen wie nachdenklichen Anekdoten aus seinem eigenen Berufsleben würzt und mit vielen Textbeispielen den Mayster selbst zu Wort kommen lässt, und letztlich der Frage nachspürt, wie Karl May in seinen Werken vorhandene aber verdeckte Wahrheiten enttarnt.








Dr. Florian Schleburg (*1972), der als Moderator durch das Symposium führt, eben weil er die 1960er Jahre selbst nicht erlebt hat, was als Vorteil aber auch als Nachteil gesehen werden kann, versucht im Anschluss daran, eine erste Diskussion über das Gehörte zu initiieren, was aber wenig Anklang findet, wohl auf aufgrund der fortgeschrittenen Uhrzeit.








Den ersten Tag des Symposiums beendet dann ein Empfang im Foyer, bei dem man sich bei Brezeln und allerlei Getränken an Stehtischen trifft, mit manchem Bekannten und alten Freund die ersten Worte nach dem Wiedersehen wechselt und gespannt die Dinge diskutiert, die die Karl-May-Welt aktuell bewegen und die die Veranstaltung an den beiden Folgetagen noch für die Besucher bereithält. Und so klingt auch dieser erste Blogbericht gediegen und ruhig aus. Schön wars! Ich freue mich auf morgen!








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