»When I see murders, I do not stand by … I have to call a murder a murder, and I have to call the murderers the murderers.« Diese Aussage Quentin Tarantinos (*1963) bei einer von Black Lives Matter organisierten Demonstration im Oktober 2015 gegen überproportionale Polizeigewalt gegen Afroamerikaner in Amerika bescherte seinem neuen Film »The Hateful Eight« (2015) einen Boykottaufruf durch diverse Polizeigewerkschaften. Und das, obwohl er in diesem Film den einzigen Afroamerikaner als Mann zweifelhaften Rufs darstellt und ihm am Ende sogar die Genitalien wegschießen lässt. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Doch der Reihe nach.
Tarantino kehrt mit seinem achten Film - man beachte die feine Wortironie im Titel, der frei übersetzt soviel wie »Die hasserfüllten/hassvollen/hassenden Acht« bedeutet - noch einmal zu dem Genre zurück, zu dem er seit »Django Unchained« (2012) eine besondere Liebe zu hegen pflegt, dem Western. Aber ist dieser Film tatsächlich ein Western? Oder täuscht hier der oberflächliche erste Eindruck eventuell?
Sicher, der Titel ist eine Hommage an »Die glorreichen Sieben (The Magnificent Seven)« (USA 1960) und gleichzeitig eine Art Fortsetzung. Der Film wurde auf 65 Millimeter Film im Format Ultra Panavision 70 gedreht. Die extra aus dem Panavision-Archiv geholten anamorphen Objektive wurden in den 1950er und 1960er Jahren bei Großproduktionen wie »Ben Hur« (1959) und »Meuterei auf der Bounty« (1962) eingesetzt. Ebenso wurde vollständig auf digitale Nachbereitung oder entsprechende Zwischenschnitte verzichtet. Die Handlung spielt westerntypisch kurz nach dem amerikanischen Bürgerkrieg (Sezessionskrieg 1861-1865), also irgendwann zwischen 1865 und 1870. Doch er ist so vieles mehr.
Der Schauplatz ist der nördliche US-Bundesstaat Wyoming im Winter. In der verschneiten Einsamkeit eines Gebirgspasses treffen in der Herberge »Minnies Miederwarenladen« einige skurrile Charaktere aufeinander und liefern sich ein Psychoduell vom Feinsten. Im Theater spricht man bei einer solchen Darbietung von »Zimmertheater«, einer besonderen Form des »Kammerspiels« (vgl. a. »Kammerspielfilm«).
Unter »Zimmertheater« versteht man laut Gero von Wilpert (1933-2009) eine »in der Nachkriegszeit zum Teil aus Raumnot entstandene moderne Kleinstform der Kammerspiele (...), die durch Intimität und Intensivität besondere Anforderungen an die Stücke wie die Schauspieler stellt.« Ein »Kammerspiel« ist wiederum nach Wilpert die »Bezeichnung für ein meist psychologisches Drama intimeren Charakters mit geringerer Personenzahl und Betonung der Sprachwirkung (...)« (Vgl. Gero von Wilpert (2001): Sachwörterbuch der Literatur, 8. verbesserte und erweiterte Auflage, Stuttgart: Kröner, Seiten 395 & 922)
Die Charaktere sind Major Marquis »Der Kopfgeldjäger« Warren (Samuel L. Jackson, *1948), der einzige Farbige, der einen gefälschten Brief von Abraham Lincoln mit sich führt, den jeder sehen will und der ihm einen ungeahnten Respekt einbringt, John Ruth, genannt »Der Henker« (Kurt Russell, *1951), ebenfalls Kopfgeldjäger, Chris Mannix (Walton Goggins, *1971), der sich selbst als den neuen Sheriff von Red Rock bezeichnet, Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh, *1962), die Gefangene von Ruth, die er zu ihrer Hinrichtung nach Red Rock bringen will, Oswaldo »Der kleine Mann« Mobray (Tim Roth, *1961), der sich als durchreisender Henker ausgibt, Joe Gage (Michael Madsen, *1957), der sich als einfacher Cowboy darstellt, der seine Mutter zu Weihnachten besuchen möchte, General Sandy »Der General« Smithers (Bruce Dern, *1936), ein alter Südstaatenoffizier, der seinem totgeglaubten Sohn in Red Rock ein symbolisches Grabmal gekauft hat, und O. B. Jackson (James Parks, *1968), der Kutscher. Ebenso spielt noch »Der Mexikaner« Bob (Demián Bachir, *1963) eine gewichtige Rolle, der einen prekär-brillanten Bezug zum gegenwärtigen Verhältnis der USA zu Mexiko herstellt, denn »Minnie hätte alles reingelassen, nur keinen Mexikaner«.
Misstrauen, Argwohn, Vorsicht, Verachtung, Mordlust und Gewaltbereitschaft prägen die Interaktionen der auf engstem Raum durch den Schneesturm zusammengepferchten Menschen. Die Natur begünstigt hier die Konfrontation, erzwingt Streit. Die klaustrophobe Situation fordert Opfer. Auf engstem Raum werden Traumata der amerikanischen Geschichte verarbeitet. Der Innenraum wird zum Schlachtfeld der Nord- und Südstaaten, zur Bewältigung des Sezessionskrieges (1861-1865), doch der emanzipatorische Befreiungsversuch des Farbigen endet in der Entmannung, in der Kastration als mächtige Metapher der Entmachtung. Der Schankraum ist eine vorbereitete Todesfalle, die nur einem Zweck dient, nämlich die Gefangene aus den Händen des Henkers zu befreien.
Die Figuren führen Diskurse über Themen wie Gerechtigkeit, das Verhältnis des Henkers zum Delinquenten, die Sklaverei und die Situation der Farbigen. Das Kopfgeldjägertum wird beleuchtet und auch die Macht der sich zu marodierenden Banden zusammenschließenden Outlaws. Seltsam seelenlos bleiben diese kurzen Schlagabtausche, seltsam nutzlos für beide Seiten. Und letzten Endes führt es für keinen der Beteiligten zu einem guten Ende. Alles kumuliert in der biblischen Erkenntnis: Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen. Gewalt ist keine Lösung und doch die Lösung für alles. Und alles lastet auf den Schultern des Gekreuzigten, der für die Sünden der Welt sein Blut hingab und sich opferte. Ob wohl genau das die Kreuzmetapher zu Beginn des Films aussagen will, wenn auf den Schultern des Corpus Christi eine Schneelast liegt?
Die Abrechnungen überschreiten bewusst die Schamgrenzen und damit auch die Grenzen des guten Geschmacks. Homoerotische Sexualpraktiken werden als Bestrafungs- und Demütigungsmaßnahmen zwischen den Rassen entlarvt und pornographische Klischees enttabuisiert. Aber gerade dadurch wird der die Dialoge beherrschende und die Handlungen bestimmende schwarze Humor, der sich bis hin zum bodenlosen Zynismus steigert, ad absurdum geführt. Eine Szene zum Beispiel, in der der Farbige dabei hilft, die Weißen zu entwaffnen, deren Schießeisen auseinandergenommen und in der Latrine versenkt werden, gewinnt eine interessante Deutung, wenn man sich Barack Obamas - immerhin der erste farbige Präsident - Kampf gegen die etablierte Waffenlobby in den USA betrachtet. Und durch alles zieht sich leitmotivartig virtuos der gefälschte, aber als echt angesehene Brief, den Abraham Lincoln (1809-1865), der bekanntlich ein gemäßigter Gegner der Sklaverei war, dem Major Marquis geschrieben haben soll.
Zur Auflösung des Ganzen ist der für Tarantino typische Bruch der linearen Erzählweise nötig. Die sechs »Kapitel« seines Films, die auch hier wieder, wie bereits bei früheren Werken, einen litarischen Anspruch suggerieren, sind nicht chronologisch angeordnet. Erst in der Rückblende, metaphorisch gesprochen in der Rückbesinnung auf Vergangenes, erschließt sich der Sinn oder, wenn man so will, der Hintergrund eines genialen Plots, bei dem alles ineinandergreift und sich gegenseitig durchdringt und bedingt. Tarantino überlässt nichts dem Zufall. Alles wird aufgeklärt. Oswaldo, Joe und Bob gehören zu einer Bande Outlaws, die unter der Führung von Daisys Bruder Jodie Domingray (Channing Tatum, *1980) Minnies Bar überfallen und alle Insassen umgebracht haben, um Daisy aus den Händen des Kopfgeldjägers zu befreien.
Den Regeln der klassischen Tragödie folgend, überlebt keiner der Charaktere. Daisy wird letztlich ihrer von Ruth bestimmten Bestrafung gemäß aufgeknüpft, jedoch ihre Henker, ihre Vollstrecker sind so stark verletzt, dass sie das auch nicht überleben können und werden, was jedoch nicht mehr gezeigt wird. Also vielleicht doch ein offenes Ende? Man wird am Ende des Films an Shakespeares berühmtes Wort »The first thing we do, let's kill all the Lawyers!« (Heinrich VI., 2. Teil, 4. Akt, 2. Szene / Dick) erinnert.
Fazit: Tarantino hat mit »The Hateful Eight« ein erregendes knapp dreistündiges Meisterwerk geschaffen, dass so ungeheuer vieles ist: In erster Linie ein psychologisch raffiniertes Zimmertheater (Minnies Miederwarenladen als alleiniger Schauplatz) voll schwärzesten Humors, der einige Male die Grenzen des guten Geschmacks eindeutig überschreitet, ein naturgestütztes Kammerspiel (Schneesturm als Konfrontationszwang), dann eine amerikanische Geschichtsbewältigung mit Gegenwartsbezug (Sezessionskrieg 1861-1865, Lincoln-Ära, Sklaverei, die Frage der Farbigen, das Verhältnis der modernen USA zu Mexiko und zur Waffenlobby), eine Reminiszenz an die alten analogen Filme der 1950er/1960er Jahre, eine Kritik am Kopfgeldjäger- aber auch am Outlawbandentum und die Entlarvung der Sinnlosigkeit von Gewalt durch ihre zynische Überhöhung und die naturalistische Darstellung ihrer Folgen. Trotz seiner Länge wird der Film zu keinem Zeitpunkt langweilig, allerdings darf man ihn nicht als actiongeladenes Popcornkinoprodukt sehen und Splatter-Fans werden enttäuscht sein. Aber Niveau ist auch im Film keine Handcreme und der gebildete Zuschauer wird von diesem Kunstwerk eine Menge profitieren, vor allem in der kritischen Auseinandersetzung mit Amerika.
Das besondere i-Tüpfelchen erhält der Film noch durch die Original-Filmmusik von Ennio Morricone (*1928), der erstmals seit 1981 wieder für einen Western eine Originalmusik geschrieben und eingespielt hat.
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