Wenn ich heute an meine ersten tiefschürfenden Leseerfahrungen zurückdenke, dann fallen mir direkt die vielen bunten Comics ein, die ich als Kind regelrecht verschlang. Vor allem die Superhelden hatten es mir angetan und da machte ich keine Unterschiede zwischen MARVEL und DC, wie es heutzutage üblich ist. Ich mochte BATMAN genauso wie DIE SPINNE und DIE RÄCHER, die heute nur unter ihrem englischen Namen im deutschen Kino bekannt sind. Daneben las ich aber neben meinem eindeutigen Favoritenautor Karl May (1842-1912) auch viel Science-Fiction, insbesondere die deutsche Heftromanserie PERRY RHODAN.
Bei PERRY RHODAN (im Folgenden PR genannt) gab es eine besondere Art Menschen, die spezielle Geisteskräfte entwickelt hatten und Fähigkeiten besaßen, die damals wie heute von den sogenannten Parawissenschaften, allen voran der Parapsychologie, erforscht wurden und werden. Das heißt, sie konnten allein durch ihren bewussten Willen Gegenstände bewegen (Telekinese), Gedanken lesen (Telepathie), anderen Menschen ihren Willen aufzwingen (Hypnokinese) oder sich von einem zum anderen Augenblick von einem an einen anderen, oft sehr weit entfernten Ort versetzen (Teleportation). Das waren so die Hauptfähigkeiten, allerdings wurden in der Serie auch noch viele andere »Mutationen« beschrieben, zum Beispiel die Fähigkeit, Körper und Geist voneinander zu trennen und mit dem Geist in die Zukunft zu reisen (Teletemporation).
Begründet wurden diese Fähigkeiten dadurch, dass die Eltern dieser »Mutanten« sich Ende 1945 in Hiroshima (Ziel des ersten kriegerischen Kernwaffeneinsatzes am 6. August 1945) oder Nagasaki (Ziel des zweiten kriegerischen Kernwaffeneinsatzes am 9. August 1945) aufgehalten hatten. Die so freigewordene Strahlung hatte eine dauerhafte Veränderung der genetischen Erbmasse erzeugt, durch die Kinder ihre jeweiligen Fähigkeiten entwickeln konnten.
Doch nicht nur bei PR wurden diese auf lange Zeit hin die Menschheit traumatisierende Ereignisse ab 1961 verarbeitet, es gab auch eine Comicserie von Stan Lee (*1922) und Jack Kirby (1917-1994), die ab 1963 bei Marvel erschien: die »X-Men«. Hier wurde sogar eine ganze Schule für paranormalbegabte Jugendliche erschaffen, in denen sie lernten, mit ihren besonderen Gaben umzugehen. Auch der Horrorautor Stephen King (*1947) widmete seinen Roman »Carrie« (1977) einem solchen Phänomen. Der »Homo superior« im besten nietzsche’schen Sinn war erschaffen.
Das Label OHRENKNEIFER setzt sich in seiner neuesten Hörspielproduktion »Stummer Wächter« ebenfalls mit einem solchen paranormalen Problem auseinander. Max Blanke (Detlef Tams) wechselt, während er schläft, in Form eines Astralkörpers an Orte, wo er ein schlimmes Verbrechen verhindert. Er verfügt also über eine Gabe, die sich aus den Psi-Fähigkeiten Teleportation, Teletemporation und Translokalisation zusammensetzt. Im Übrigen widmet STAR TREK: VOYAGER in einer Serienepisode (Nr. 3x24 »Translokalisation« vom 7. Mai 1997) sich einem ähnlichen Phänomen.
Das, was die Geschichte allerdings so interessant und hörenswert macht, ist die Tatsache, dass Blanke gerade nicht im Rahmen eines typischen X-Men-Plots als freier Mensch agiert, der Heldentaten vor den bewundernden Blicken aller Menschen vollbringt, sondern, dass er in der Taunusklinik – also in Deutschland, nicht in Amerika oder irgendwo auf der Welt – zur therapeutischen Behandlung untergebracht ist, und zwar schon seit Jahren. Er gilt als autoaggressiv, paranoid und schizophren. Erst das Eintreffen der neuen Ärztin Dr. Lichte (Katja Pilaski) bringt den Stein ins Rollen und ändert alles, nicht nur für Blanke, auch für alle anderen Beteiligten.
Herrlich sind die Namen der Protagonisten, die alle dem alten lateinischen Prinzip »nomen est omen« zu folgen scheinen – der Name ist ein Vorzeichen. Da gibt es den bereits erwähnten Max Blanke, dessen Namen auf groteske Weise mit dem des berühmten deutschen Physikers und Begründers der Quantenphysik Max Planck (1858-1947) korreliert. Dann Dr. Lichte, die letztlich Licht in die Sache bringt, und schließlich der Kommissar Engler (Dirk Hardegen), der die Funktion des rettenden Engels übernimmt.
Das Skript des Bad Homburger Autors Franjo Franjkovic (*1979) ist rasant und schnell, ebenso wie die Inszenierung. Der Hörer wird durch einen Alptraum an Eindrücken und Kopfkino-Attacken gejagt, wird als Teil der Gedanken Blankes in Form eines Stream of Conciousness an dessen unmittelbarem Erleben beteiligt. Zeit, sich auszuruhen, über das Gehörte zu reflektieren, findet sich erst im Nachhinein. Erst nach dem Ende kann man alles sacken lassen. Erst dann, so paradox es klingen mag, entfaltet dieses Hörspiel seine Wirkung – und die ist immens.
Die einzelnen Charaktere sind, jeder für sich genommen, äußerst tiefgründig, doch dieser Tiefe wird kaum Zeit zur Entwicklung eingeräumt. Alles wird unter dem sich wie ein Virus ausbreitenden Konflikt begraben und erstickt. Die Macher wären gut beraten, die Charaktere in weiteren Hörspielen noch tiefer auszuloten und sie ihr volles Potential ausschöpfen zu lassen. Denn dieses Potential ist definitiv vorhanden. Eine gute Option dafür bietet auch der offene Schluss, der hier gerade dazu einlädt, Max Blanke wiederkehren zu lassen, und ihn erneut mit Dr. Lichte, dem Klinikleiter Dr. Vosshagen (Gordon Piedesack) und dem vielversprechenden ›modernen‹ Kommissar Engler zu konfrontieren.
Die Besetzung, die bis in die kleinste Nebenrolle aus Ohrenkneifer-Stammpersonal besteht, ist, wie gewohnt, äußerst engagiert bei der Sache und was bei vielen großen Blockbuster-Hörspielen leider schon hörbar wird, nämlich die Abnutzung der Spielfreude aufgrund massenproduktionsorientierter Gegebenheiten bei der Aufnahme, hat dieses Ensemble gottlob noch nicht befallen. Man hat das Gefühl, dass es den Sprechern richtig Freude bereitet, in die einzelnen Rollen zu schlüpfen. In weiteren Rollen sind Robert Missler als Erzähler, Tom Steinbrecher als Pfleger Holger, Alianne Diehl als Schwester Anna, Yeșim Meisheit als Bianca Engler, Patrick Steiner als Kommissar Winker, Horst Kurth als Pfleger Roland, Karin M. Schneider als ältere Dame, Marc Schülert als U-Bahn-Techniker, Sven Matthias als Polizist, Sabine Hardegen, Viktor Hacker und Werner Wilkening zu hören.
Die Soundkulisse wie die Musik ist gottlob unaufdringlich und stilsicher. Unaufdringlich meint hier passend und nicht überfrachtet. Sound kann, wenn er zu stark übertrieben wird, ebenso wie überladene Musik, das Hörvergnügen trüben. Genau das hat man hier vermieden.
Das Ganze ist in sich stimmig und hoch professionell gemacht. Cover und CD fühlen sich wertig an. Sie machen optisch einen sauberen, soliden Eindruck, der Lust auf das Hörspiel einerseits macht und das Interesse an weiteren Produktionen andererseits weckt. Ein schönes Stück zu einem angemessenen Preis, das einen besonderen Platz in jeder Hörspielsammlung einnehmen sollte. Was diese letzte Feststellung hier bedeutet, kann man vor allem dann erahnen, wenn man bedenkt, dass der OHRENKNEIFER ein kleines Independent-Label ist und alles in liebevoller von einem idealistischen Team getragener Handarbeit produziert wird. Weiter so! Ich freue mich schon sehr auf das nächste Mal, wenn mich wieder ein solches Hörspiel ins Ohr kneift.
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