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Konfrontation mit den eigenen Dämonen - Rob Letterman's Kinderbuchadaption »Gänsehaut«

»Herr Wayand, kann ich auch das hier nehmen?« Der 12-jährige Schüler reicht mir ein kleines schmales Buch, das ein grün-blau-buntes Cover hat und auf dem in Grusellettern der Begriff »Gänsehaut« gedruckt ist. Ich schaue skeptisch auf das Büchlein. Besonders wertig scheint mit das ja nicht gerade zu sein. Für eine Buchvorstellung in der sechsten Klasse sollte schon eine andere Lektüre her. Ich will schon lapidar ablehnen, aber dann halte ich inne und überlege. Warum eigentlich nicht. Ich kenne das Buch zwar nicht, aber als mir dann erklärt wird, es sei eine sehr erfolgreiche Kinderbuchreihe, werde ich neugierig. Nicht neugierig genug, um selbst so ein Buch zu lesen, auch wenn ich das als Deutschlehrer vielleicht machen sollte, aber neugierig genug, um mir den gleichnamigen Film anzusehen, der nach diesen Büchern gedreht wurde.

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Eine Literaturverfilmung zu sehen, ohne vorher das Buch gelesen zu haben, kann Glück und Pech bedeuten. Pech in dem Fall, wenn es ein wirklich hervorragendes Buch ist, dass man wieder einmal darüber schimpft, dass der Film das Buch verstümmelt, die Handlung verändert und sonst was damit angestellt hat, oder Glück, wenn man den Film als eigenständiges Kunstwerk begreift, das eigenen Regeln und Gesetzen folgt und deswegen immer etwas Neues und Eigenständiges ist, egal, wie gut die Vorlage ist.

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Trotz allem will ich nicht ganz unvorbereitet auf das treffen, was mich im Kino erwartet. Nennen Sie es berufliche Skepsis oder die trügerische Gewissheit, der eigenen Neugier immer einen Schritt voraus zu sein. Also google ich; zunächst nach der Buchreihe und dann nach dem Autor. Und da finde ich einige interessante Details, die ich hier nicht unerwähnt lassen möchte.

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»Gänsehaut« (»Goosebumps«) ist eine Gruselserie für Kinder im Taschenbuchformat, die seit 1992 erscheint. Sie umfasst aktuell um die einhundert Bändchen, in Deutschland sind etwa siebzig in Übersetzung erschienen. Sie gilt als die zweiterfolgreichste Buchreihe nach Joanne K. Rowlings »Harry Potter«-Septologie. Wir reden hier von weltweit 300 Millionen verkauften Exemplaren und Übersetzungen in rund 30 Sprachen. Also durchaus ein Phänomen, dem man, gerade als Lehrer und Literaturwissenschaftler, sein Interesse nicht verwehren sollte.
Der Erfinder dieser Reihe, die sich an ein Lesepublikum zwischen 10 und 14 Jahren richtet, ist der US-amerikanische Kinder- und Jugendbuchautor Robert Lawrence Stine (*1943), kurz: R. L. Stine, der auch unter dem Pseudonym Jovial Bob Stine publizierte. Er gilt mit einer Verkaufszahl von 350 Millionen seiner Bücher als einer der erfolgreichsten Schriftsteller weltweit. Er steht sogar als »MOST PROLIFIC AUTHOR OF CHILDREN’S HORROR FICTION NOVELS« im Guinness-Buch der Rekorde. 
Was die Wertung seiner Texte angeht, so mache ich es mir hier einmal leicht und zitiere aus dem gut recherchierten Wikipedia-Artikel über Stine, und zwar den Abschnitt »Kritische Würdigung«, der sich im Wesentlichen auf einen Artikel von Sigrid Tinz in der ZEIT vom 29. April 2004 bezieht, die wiederum ihre Angaben aus der Diplomarbeit von Beate Busse schöpft: »Robert Lawrence Stine mixt in seinen Büchern nachvollziehbare Szenarien aus der Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen mit Horror und Gruseleffekten sowie einer Prise Ulk und Witz, was bei den jugendlichen Lesern, wie Umfragen belegen, äußerst gut ankommt. Sein meist parataktischer Sprachstil – vornehmlich in Hauptsätzen der Umgangssprache formulierend – ist sehr schlicht und geschickt an den Jugendjargon (auch in der deutschen Übersetzung) angepasst, ohne dabei auf ein niedriges Niveau herabzusinken. Viele Jugendliche, die sonst nie ein Buch in die Hand nehmen würden und selbst die Harry-Potter-Bände als zu anspruchsvoll empfinden, finden durch R. L. Stine zum Lesen und können teilweise dadurch sogar ihre Lese- und Schreibkompetenz in der Schule verbessern. Das wissen selbst Pädagogen und Bibliothekare, die dem Werk R. L. Stines eher kritisch gegenüberstehen, durchaus zu schätzen.« (Vgl. https://de.m.wikipedia.org/wiki/R._L._Stine, Abschnitt »Kritische Würdigung«)
Also im Endeffekt sind es didaktisch wertvolle Geschichten, weil sie lese- und rechtschreibschwache Schülerinnen und Schüler zum Lesen animieren, ohne platt und sprachlich eine Zumutung zu sein. Aber ob das Lesen um jeden Preis – und diese Anmerkung sei mir hier gestattet –, auch um den Preis der Aufgabe jedweder intellektueller Hürde während des Leseprozesses anzustreben ist, wage ich zu bezweifeln. Wollen wir dumme und tumbe Rezipienten einer absolut unkomplizierten, einfachen Literatur? Oder wollen wir junge Menschen, die gelernt haben, ihr Hirn anzustrengen und die sich auch mit vermeintlich ungeliebten Kompliziertheiten auseinandersetzen wollen? Doch das ist eine andere Diskussion, die an entsprechend exponierter Stelle zu führen sein wird.
Wie allerdings kann man nun ein solches Oeuvre filmisch adaptieren? Ganz einfach, in dem man das ganze Werk auf eine Metaebene hebt und den Autor und seinen Schreibprozess in seine Geschichten hineinbringt. Das klingt kompliziert? Ist es aber gar nicht. Wir begegnen in dem Film dem Autor R. L. Stine (Jack Black, *1969) selbst, der ein an der Welt verzweifelnder, verbitterter Mensch ist, der immer mal wieder umzieht und die Manuskripte seiner Werke abschließt. Wie kam er dazu, all die schrecklichen Dinge zu erfinden, die er in seinen Geschichten beschreibt? Nun, er hatte eine schlimme Kindheit – wie klischeehaft! –, eine Allergie zwang ihn, zuhause zu bleiben, und die anderen Kinder haben ihn dafür gehänselt. Da hat er sich einfach an ihnen gerächt, in dem er Monster erfand, die diesen bösen Kindern schlimme Dinge antun. Geschrieben hat er seine Sachen mit einer magischen alten Schreibmaschine, die den Gestalten aus den Geschichten unheiliges Leben eingehaucht hat.
Durch einen dummen Umstand öffnet der neue Nachbarsjunge Zach Cooper (Dylan Minnette, *1996) eines der Bücher und befreit so eines der Monster, das wiederum alle anderen Monster befreit, die ab da die kleine Stadt Greendale, Delaware, terrorisieren. Die vielfältigen Spukgestalten können nur dadurch besiegt werden, dass sie in die Bücher zurückgesaugt werden, allerdings vernichtet die besonders böse Bauchrednerpuppe Slappy die Bücher. Stine muss eine neue Geschichte schreiben, »die Beste, die du je geschrieben hast und in der alle deine Kinder vorkommen«. Stine muss sich schließlich schreibend seinen Dämonen stellen, er muss »um sein Leben schreiben«, um die Welt, von der er sich eigentlich abgewendet hat, retten zu können.
Neben dem aus »School of Rock« (2003) bestens bekannten Jack Black und Dylan Minnette, der seine ersten Erfolge mit »Saving Grace« (2007-2010) und »Marvel’s Agents of S.H.I.E.L.D.« (2014) feierte, brilliert noch Odeya Rush (*1997), bekannt durch ihre Hauptrolle in »Hüter der Erinnerung - The Giver« (2014) in der Rolle von Stines erfundener Tochter Hannah – es sei noch angemerkt, dass es im Film immer wieder liebenswerte, augenzwinkernde Anspielungen auf frühere Filme der Stars gibt, die durchaus als ironische Selbstreflexionen gelten können.

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Regisseur Rob Letterman verfilmt also nicht eine einzelne von Stines Geschichten oder bastelt sich aus mehreren Texten ein Drehbuch zusammen, nein, er hebt Stine als Schriftstellerphänomen auf eine Metaebene, von der aus er sich selbst betrachten kann und sich selbst zu seiner eigenen Romanfigur macht, die auch noch die ultimative Gänsehaut-Geschichte aller Gänsehaut-Geschichten schreibt – ja, er schreibt sich quasi von seiner literarischen Schöpfung, von den Kindern seiner Phantasie los, er besiegt seine Misanthropie, seine Verbitterung und wird zu einem fast schon netten, sympathischen Kerl: Ein böswilliger Schelm, wer darin eine absolute Selbstbeweihräucherung eines egozentrierten Erfolgsschriftstellers sieht, denn das Ganze hat eine unfreiwillig komische Note und wirkt schließlich nur mit einem Augenzwinkern und als total überdrehte Horrorparodie.
Der handwerklich solide gemachte Film, der alle Erwartungen erfüllt und alle zu erwartenden Klischees bedient – und wenn ich das richtig verstanden habe, tun das die Bücher ja auch – ist eine gute, kurzweilige Unterhaltung für Kinder und auch für Kindgebliebene. Ein Wermutstropfen allerdings bleibt. Schade, dass, wie in den meisten Unterhaltungsfilmen, die für Kinder gemacht werden, der Tiefgang fehlt. Anscheinend trauen die Filmemacher Kindern dahingehend nur sehr wenig zu. Sie würden sich wundern, was Kinder und Jugendliche mit etwas Anspruch und einer etwas höheren intellektuellen Herausforderung zu leisten imstande wären ... –

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