Diese Rezension wurde unter demselben Titel in den Nachrichten der Karl-May-Gesellschaft Nr. 187, 1. Quartal/März 2016, S. 21-25 veröffentlich.

»In der damaligen Qualität mit so guten Sprechern kann man heute keine Hörspiele mehr produzieren. Die Kosten wären viel zu hoch. Damals hatten wir Auflagen um die 200.000 Stück pro Folge, die heutigen Hörspiele erreichen nur selten 10.000.« So äußert sich kein Geringerer als der Schriftsteller und Journalist Hans Gerhard Franciskowsky (1936-2011), der unter seinem bekanntesten Pseudonym »H. G. Francis« nicht nur als Perry-Rhodan-Autor bekannt wurde, sondern auch für die Kinder und Jugendlichen der 1970er, 1980er und 1990er Jahre zum »Vater der Kassettenkinder« wurde. Ich hatte mit dem berühmten Hörspielautor von über 600 kommerziellen Hörspielen vor allem auch für das Studio EUROPA seinerzeit einen leider viel zu kurzen Briefwechsel und der Satz stammt aus einem Brief vom 27. März 2004.
Das Hörspiel war also bereits damals in eine Krise geraten, aus der es kaum noch, glaubt man Francis hier, herauskommen würde. Und in der Tat, der von großen bekannten Studios dominierte Markt brach ein, viele Hörspielserien, die begonnen wurden, konnten mangels Nachfrage nicht fortgeführt werden, die Sprechergagen waren kaum noch finanzierbar. Dennoch hielten sich hartnäckig vor allem kleine Independant-Labels und parallel zum Hörspiel etablierte sich nach und nach das immer beliebter werdende und wesentlich billiger zu produzierende Hörbuch. Diese Szene lebte und lebt von den einzigartigen Stimmfähigkeiten charismatischer Sprecher wie Christian Brückner (*1943) und Rufus Beck (*1957), die sich allein durch Lesungen einen Namen zu machen verstanden. Das Vorlesen gewann wieder stärker an Bedeutung.
Ein gutes Hörspiel – oder besser: ein gut gemachtes Hörspiel – soll dem Hörer ein einmaliges und unvergleichliches Kopfkino-Erlebnis bescheren. Aber mit der rasanten Entwicklung der Welt kann der heutige Mensch oftmals nur schwer mithalten. Der Preis für die Anpassung ist der Verlust bestimmter Fähigkeiten. Das »Kino im Kopf« können nämlich nur noch wenige Zeitgenossen wirklich erleben und erfahren, egal wie gut so eine Produktion gemacht ist. In der heutigen Zeit ist jene besondere Fähigkeit etwas, das trainiert werden muss, daher kommt es auch immer auf den sozio-kulturellen Hintergrund des Hörers an. Glaubt man modernen Untersuchungen, so hören viele Menschen vor allem kommerzielle Hörspiele zum Einschlafen vor dem Zubettgehen, während langer Autofahrten oder beim Putzen der Wohnung. Sie sind fest abonniert auf ihre Serien, die sie teilweise schon von Kindesbeinen an kennen (Die drei Fragezeichen, Geisterjäger John Sinclair, Perry Rhodan, usw.). Solche Menschen sind irgendwo zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt und es gibt sogar bereits einen Begriff für sie. Annette Bastian nennt diese Zielgruppe in ihrem Buch »Das Erbe der Kassettenkinder: … ein spezialgelagerter Sonderfall« (1. Auflage, ecomedia: Oktober 2003) eben die »Kassettenkinder«, deren sprichwörtlicher Vater oftmals der oben zitierte H. G. Francis war.
Karl May (1842-1912) war immer ein gern vertonter Stoff, der bereits früh (1935) für das Radiohörspiel bearbeitet und eingerichtet wurde, als auch dann später immer wieder zu kommerziellen Produktionen herangezogen wurde. Berühmte Ikonen der deutschen Schauspielriege liehen wiederholt Karl Mays Figuren ihre bekannten Stimmen und erfüllten diese so in der Phantasie vieler Kinder und Jugendlicher des 20. Jahrhunderts mit unverwechselbarem Leben. Es gab auch Stimmen, die, ob gewollt oder ungewollt, auf einzelne Rollen festgelegt wurden, wie zum Beispiel der unvergessene Konrad Halver (1944-2012) auf die Figur des »wohl berühmtesten und gefürchtetsten Indianers zwischen Sonora und Kolumbien« Winnetou, des Häuptlings der Apatschen und Blutsbruder Old Shatterhands.
Um originelle May-Hörspiele hat sich in den letzten Jahren vor allem Meike Anders bemüht, aber schon lange hat es keine Produktion mehr gegeben, wie die hier zu besprechende aktuelle Produktion des kleinen Labels OHRENKNEIFER, das von dem deutschen Synchron- und Hörspielsprecher Dirk Hardegen (*1969) gegründet wurde. Diese Label fiel mir bereits im letzten Jahr durch ein außergewöhnliches Hörspiel mit dem Titel »Blutige Pfährten« (November 2014) auf, eine interessante Mischung aus Western und Thriller, hervorragend und hochprofessionell produziert. Bei diesem Hörspiel passierte es mir als passioniertem und erfahrenem Hörspielhörer, dass ich, wie ich es schon lange nicht mehr getan habe, das Hörspiel gleich mehrere Male hintereinander hörte – einfach, weil ich nicht genug davon bekommen konnte. So behielt ich das Label im Auge und war sehr neugierig, als man ein neues Hörspiel ankündigte, das dann auch noch ein Karl-May-Hörspiel sein sollte. Als der Titel »Old Firehand« feststand, und das dem klassischen Erscheinungsbild des Karl-May-Buchs nachempfundene Cover, das von Wolfram Damerius gelayoutet wurde, auf Facebook die Runde machte, wuchs die Neugier ins Unermessliche.
Hardegen legt seiner Produktion einen der ganz frühen May-Texte aus dem Jahr 1875 zugrunde. Unter dem Titel »Aus der Mappe eines Vielgereisten. von Karl May. Nr. 2. Old Firehand« erschien der Text erstmals im ersten Jahrgang der Zeitschrift »Deutsche Familienblatt. Wochenschrift für Geist und Gemüth zur Unterhaltung für Jedermann« 1875 im Verlag H. G. Münchmeyer in Dresden, dessen Redakteur Karl May war. Es handelt sich sozusagen um den Ur-May, um den frühesten Entwurf seines Wildwest-Settings und einiger berühmter Hauptfiguren, wie Old Firehand, Sam Hawkins, Dick Stone, Will Parker, Winnetou und natürlich seines Ich-Erzählers, der aber noch nicht den Namen Old Shatterhand trägt. Es ist die erste längere Erzählung, die Karl May im Wilden Westen spielen lässt. Und in ihr taucht auch das berühmte Pferd Swallow (Schwalbe) auf, nach dem Erich Loest (1926-2013) seinen berühmten Roman über Karl May »Swallow, mein wackerer Mustang« (Das Neue Berlin: Berlin 1980 und Hoffmann und Campe: Hamburg 1980) benannt hat. Ein Anfang? Ein Neubeginn? Ein Startschuss? Sie erscheint zwischen 1885 und 2006 in diversen Publikationen, für die sie entsprechend angepasst und verändert wird. May selbst integriert sie später stark bearbeitet in die Reiseerzählung »Winnetou. Zweiter Band«. Er konturiert in dieser frühen Erzählung seine Helden, lässt sie aber, was wohl auch seinem Alter und dem Zeitgeist geschuldet ist, noch viel roher, rauher, urtümlicher und wilder erscheinen, als er das später in seinen Reiseerzählungen und Reiseromanen tun wird.
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Hallo Peter, eine sehr ausführliche und für mich gut nachvollziehbare Rezension! Deine Stimmenvergleiche finde ich interessant.
AntwortenLöschenWas den zusätzlichen Erzähler anbelangt, halte ich die Entscheidung von Dirk Hardegen für richtig. Die Monologstrecken wären bei den langen Textpassagen zuviel gewesen.
Jörg
Vielen Dank, Jörg, die "Kritik" am doppelten Erzähler war ja auch nicht wirklich eine Kritik, sondern für den Fall der Fälle, dass man unbedingt etwas finden muss. :-) Nein, tolle Arbeit! Wirklich!
LöschenDa kann man wirklich nur hoffen, dass es weitere May-Hörspiele vom Ohrenkneifer gibt...
AntwortenLöschenDer Protagonist hat schon in der Rolle sehr viel Text, ihn dann auch noch den gesamten Erzählertext übernehmen zu lassen, hätte bei all seinen anderen Funktionen (Skript, Musik, Regie, Produktion) zu sehr nach One-Man-Show ausgesehen - und geklungen. Ich bin sehr froh mit Heiko Grauel, weil man das Gefühl hat, eine etablierte May-Erzähl-Stimme nehme einen an die Hand.
AntwortenLöschenDas ist auch völlig in Ordnung so. Es hat ja niemand behauptet, das Heiko keinen guten Job macht, im Gegenteil. :-)
LöschenR.Peter
AntwortenLöschenHallo! Zuerst einmal finde ich es toll, dass im Jahr 2016 solche Hörspiele veröffentlicht werden. Trotzdem stellt sich auch hier Enttäuschung ein. Stichwort "Kopfkino"! So ganz will es sich eben nicht einstellen, denn allzu oft wirkt der Text eben doch gelesen und die Geräusche aufgesetzt. Ein Phänomen, welches schon im Trailer der anderen Produktion "Blutige Fährten" auffällt. Man merkt, dass hier viel Liebe und harte Arbeit drin steckt, aber wie schon am Anfang mit H.G Francis zitiert, kommen die heutigen Hörspiele einfach nicht an die Klasse der Alten heran. Zum Vergleich einfach mal die Augen schließen und "Paul Temple" hören. Oder wenn es May sein soll "Old Shatterhand 1- Europa". Das ist echtes "Kopfkino".
Die Interpretation des "Winnetou" gefällt mir hier gar nicht und gerade der in Karl Mays Frühwerk noch kriegerische "Winnetou" ist von Marc Schülert leider völlig fehlinterpretiert. Schade! Von einer Ähnlichkeit zu Halvers Interpretation (weder wilder bei Europa, noch "weicher" bei PEG) kann hier in meinen Augen überhaupt nicht gesprochen werden.