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„Gehn Sie Europens Königen voran./Ein Federzug von dieser Hand, und neu/Erschaffen wird die Welt. Geben Sie/Gedankenfreiheit -“ Die berühmte Aussage des Malteserritters Marquis von Posa aus dem zehnten Auftritt des dritten Aktes ist wohl jedem bekannt, der Friedrich Schillers (1759-1805) dramatisches Gedicht „Don Carlos, Infant von Spanien“ kennt, sei es nun aus der Reclam-Ausgabe, der Schule oder dem Theater. Die Schreibweise - ob nun Carlos oder Karlos - ist hier getrost zu vernachlässigen, da sich Schiller selbst beider Schreibweisen bediente.
1787 uraufgeführt, passte das Stück mit seiner kriminalistischen Aufbrechung der kabalistischen Machtbestrebungen am Spanischen Hof Philipps II. (1527-1598) in die Zeit unmittelbar vor der Französischen Revolution, die sich bereits zwei Jahre später von Frankreich ausgehend in Europa Bahn brechen sollte. Und hört man die Forderung des Marquis vor dem Hintergrund aktueller politischer, gesellschaftlicher und kultureller Ereignisse der Gegenwart, so spürt man die Größe dieses Dichters, die zweifelsohne in der Zeitlosigkeit vieler seiner Werke begründet liegt.
Im Theater der Stadt Koblenz nahm sich die freie Regisseurin Olga Wildgruber (*1968), eine Tochter des Schauspielers Ulrich Wildgruber (1937-1999) und der Dramaturgin und Lektorin Vera Wildgruber, die u. a. bei Jürgen Flimm (*1941) in Hamburg Schauspieltheater-Regie studiert hat, gerade diese Aussage sehr zu Herzen und forderte von ihrem Publikum weit mehr als nur Gedankenfreiheit. Sie griff radikal in das Stück ein und experimentierte mit einer dem aktuellen Gendermainstream angepassten Variante: Aus Don Karlos wird Dona Karla, aus dem Marquis wird die Marquise, aus dem König wird die Königin, und so weiter und so fort. Sie schreibt Schillers Dialoge für die auf diese Art und Weise neu geschaffenen Figuren um, und schafft so ein eigenartiges neues Gebilde, was nur noch wenig mit dem Schiller’schen Original zu tun hat.
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Doch dann führt Wildgruber, aus welchem Grund auch immer, diese Umkehrung, diese Antipolarisation nicht konsequent durch, in dem sie das ganze Stück so durchkonstruiert, nein, sie lässt viele Szenen des Stücks zweimal spielen, immer schön hintereinander, so dass der Zuschauer alles zweimal hört und sieht, jeweils nur mit umgekehrtem Rollenverständnis. Erst mit zunehmender Dauer des Stücks werden diese beiden Ebenen szenisch zusammengeführt, allerdings ohne sich jemals wirklich zu überlappen oder zu treffen. - Es wäre doch interessant gewesen, einmal die Spiegelbilder miteinander zu konfrontieren: Was hätte Don Karlos wohl zu Dona Karla gesagt? Wie hätten sich der Marquis und die Marquise verstanden? - Das führt zu extremer Verwirrung beim Zuschauer, der sich ungeheuer anstrengen muss, um nachher noch zu wissen, wer wer ist. Außerdem zieht es das Stück, das ohnehin schon sehr lang ist, ungemein in die Länge. Wieso muss man das alles zweimal sehen? Es nimmt Spannung aus einer komplizierten Handlung heraus, Spannung, die nötig ist, um dem Geschehen über längere Zeit - in Koblenz kommt die Inszenierung immerhin auf eine Länge von knapp dreieinhalb Stunden - konzentriert folgen zu können.
Es gibt eine kurze Pause, so dass der Eindruck entsteht, das Stück hätte zwei Teile. Diese Pause nutzt man gern, sind doch die alten, abgewetzten und wenig unterfütterten Sitze im Koblenzer Stadttheater wenig geeignet, um länger darauf bequem sitzen zu können. Im Foyer werden Getränke gereicht, allerdings kommen viele Gäste gar nicht dazu, ein Getränk zu erwerben oder gar zu trinken, da der Gong bereits wieder hineinruft.
Das Bühnenbild ist - wie man das vom Regietheater kennt - gewohnt karg, langweilig und nichtssagend. Es gibt verallgemeinernde Elementmetaphern wie Feuer, das aus dem Boden schlägt und Wasser, das in einer Viereckskaskade von der Decke kommt und den Eindruck vermittelt, die Schauspieler ständen im Regen. Die Rückwand verfügt über eine Reihe von Backlights, die, je nach Stimmung, in unterschiedlichen Farben erglühen. Es wird ab und an vor geschlossenem Vorhang gespielt, der auch teilweise selbst als Requisit gilt, um sich darin einzuwickeln und zu verstecken. Die anfänglich sehr schöne Bodendeko, die den königlichen Garten in Aranjuez darstellen soll, verschwindet viel zu früh und ein seitlich stehender ausgestopfter Vogelstrauß ist wohl auch nur schmückendes Beiwerk, denn er wird nicht bespielt, sondern lediglich geteert und gerupft nach der Pause ausgestellt. Wieder eine Metapher, natürlich, aber welchen Sinn macht sie hier? Ähnliches ließe sich auch über die Kostümierung sagen, die alle Protagonisten gleichmeiert, und der man weder eine gesellschaftliche Stellung noch eine entsprechende Bedeutung ansehen kann.
Natürlich lässt die Metapherndeutung auch die unterschiedlichsten Möglichkeiten zu, aber bewusst nachvollziehbar wird das Ganze nicht. Der Zuschauer gewinnt den Eindruck, dass auf der ansonsten leeren Bühne unsichtbare Spiegel stehen, in denen sich Personen und Geschehen immer wieder spiegelt. Die Spiegelbilder begegnen einander sogar, bemerken sich und rümpfen darob reserviert, überrascht, ungläubig die Nase: Schiller meets Brecht? Oder besser Schiller meets Michael Ende (1929-1995), an dessen Werk „Der Spiegel im Spiegel. Ein Labyrinth“ (1984) man sich unwillkürlich erinnert fühlt?
Wildgrubers Striche betonen die zwischenmenschlichen Aspekte des Stücks, die Liebesbeziehungen, und vernachlässigen die politisch-gesellschaftlichen Dimensionen. Wozu auch? Wer will heute schon noch politisches Theater sehen? Das heutige Publikum ist duldsam geworden. Man schaut sich alles an, man beklatscht alles, man murrt nur noch selten und regt sich nicht mehr auf. Es ist ja alles eben Kunst. Und Schiller und Goethe sind mächtige Kulturfranchises geworden, Meister der deutschen Literatur, die man auf einen hohen Sockel stellt, die so erhaben sind, um einen Ausdruck von Mozart zu verwenden, dass sie Mamor scheißen. Deutschland begibt sich innerhalb dieser wächsernen und blasierten Kunstszene nicht mehr auf die Suche nach dem Superstar.
Wildgrubers Herangehensweise und Regiearbeit könnte ein sehr reizvolles Theaterprojekt sein, wenn es einen sittlichen Nährwert und einen deutlichen Zugewinn für die Interpretation des Stücks hergeben würde, was es leider nicht tut. Schon gar nicht, wenn die Spiegelbilder parallel auf der Bühne ihre unterschiedlichen Texte sprechen und man nur Bruchstücke dessen versteht, selbst wenn man sich auf eine Person konzentriert, wie es einem in der Einführung zum Stück eine halbe Stunde vor Beginn geraten wird. Apropos Einführung. Wozu eigentlich? Sollte ein Stück nicht so inszeniert werden, dass es selbsterklärend ist, dass der Zuschauer von allein versteht, was er sieht? Wenn wir in Zukunft erst eine Einführung in das brauchen, was wir sehen werden, wo ist da die eigene kognitive Leistung des Zuschauers? Wo ist da ein bewusstes Rezipieren? Wo bleibt da der Spaß, den Theater machen sollte? Ansonsten verkommt es zu einer trockenen Schulstunde zum jeweiligen Thema. Will man das wirklich so? Will sich der Zuschauer wirklich derart entmündigen lassen?
Das üppige Programmheft - wer liest das schon? - das für den moderaten Preis von drei Euro zu erwerben ist und, nebenbei bemerkt, dieses Geld wirklich wert ist, beleuchtet für den Zuschauer vor allem in den sehr lesenswerten Beiträgen „Hin zum Homogenen. Unabhängigkeitsbestrebungen im Jahr 2014“ von der Wiener Philosophin Isolde Charim (*1959) und „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen. Als Männer noch Frauen waren“ von Alice Schwarzer (*1942) den Sinn der Inszenierung und wie diese verstanden werden will. Also eine Form von feministischer Interpretation oder besser Interpretation der Gleichstellung zwischen Mann und Frau? Man lasse sich das noch einmal langsam auf der Zunge zergehen: Eine Inszenierung benötigt eine Erläuterung im Programmheft, da sie es aus sich selbst heraus nicht schafft, genau zu vermitteln, was sie will?
Die Reaktionen des Publikums sind dann entsprechend gespalten. Sie reichen vom murrenden - aber leisem, vorsichtigem, zurückhaltendem - Zischen einiger Herrschaften „vom Fach“, die die Inszenierung kaum aushalten, von einer Vergewaltigung Schillers sprechen und ihr Eintrittsgeld zurückverlangen, bis hin zu einer kleinen Gruppe von Begeisterten, die beim Schlussapplaus sogar aufstehen um stehende Ovationen zu spenden. Allerdings ist diese Gruppe sehr klein und der Schlussapplaus fällt eher mäßig aus, weniger reichhaltig, als es im eigentlichen zu erwarten gewesen wäre, so zumindest in der Aufführung am 9. Januar 2015. Das Gros der Zuschauer ist gleichmütig, man hat sein Theater-Abo mal wieder genutzt, man hat sich mal wieder Kultur angetan und nun verschwindet man ungerührt aus dem Theater um den restlichen Abend in einem guten Restaurant noch zu genießen und ausklingen zu lassen. Das Gesehene wird da kaum noch Thema sein, wie mir scheint. Der Applaus belohnt wohlwollend die schauspielerischen Leistungen des Ensembles, die man von der Kritik ausschließen muss, denn die waren ausgezeichnet. Sie setzten ja nur die Vision der Regisseurin um, das aber mit großer Verve und Professionalität.
Schiller war als Dichter größer als Goethe, was dieser wusste. Und dennoch wird man wirklich an die fast schon resignative Feststellung von Goethes Schauspieldirektor aus „Faust. Der Tragödie erster Teil“ erinnert: „Ihr wisst, auf unsern deutschen Bühnen/Probiert ein jeder, was er mag; …“. Doch sei die Meinung erlaubt, dass es Grenzen gibt, Grenzen der Ästhetik, Grenzen der Regiearbeit und schließlich Grenzen des guten Geschmacks. Es mag in gewissen Kreisen gerade heutzutage eine Sache eben jenes Geschmacks sein, ob man diese Grenzen nach Belieben überschreiten kann und sollte. Was aber meines Erachtens nach an erster Stelle stehen muss - ja, immer noch, auch nach hunderten von Jahren - ist die Intention des Autors. Und ich wage abschließend die Behauptung, dass selbst der ausgehende Stürmer-und-Dränger Schiller diese bewusste Verfremdung und intentionale Überfrachtung seines Stücks nicht gutgeheißen hätte.
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