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Über das episches Volkstheater der Moderne - Interview mit Angelika Sieburg und Andreas Wellano


Das im Folgenden abgedruckte Interview entstand am Abend des 4. Dezember 2014 auf der Bühne des freien Theater in den Landungsbrücken in Frankfurt am Main (=> Homepage). direkt im Anschluss an die Premiere von „La storia della Tigre“ des Literaturnobelpreisträgers Dario Fo (*1926; => Homepage). Das Interview wurde zum Zweck der besseren Lesbarkeit sprachlich geglättet und eingerichtet. Den Originalwortlaut entnehmen Sie bitte dem Audiomitschnitt am Ende des Textes. Die Rezension zum Stück finden Sie hier.


Peter Wayand

Okay. Ersteinmal herzlichen Glückwunsch zur Premiere. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass ihr mich eingeladen habt, bzw. dass du, Andreas, mich eingeladen hast. Ich bin gerne gekommen und ich muss sagen, ich habe es richtig genossen und zwar von der ersten bis zur letzten Minute. Meine erste Frage an euch beide: Warum Dario Fo (*1926)? Gibt es eine persönliche Beziehung zu dem Mann? Warum dieses Stück?

Angelika Sieburg

Danke. Ich glaube, dass musst du beantworten, Andreas, du hast danach gegriffen, als wir es 1982 oder 1981 gesehen haben.

Andreas Wellano

Danke. Ja, genau. Wir haben 1981 in Berlin den Dario Fo selber vor zweitausend Leuten spielen gesehen und da sagte ich, das will ich machen. Dario Fo war damals in seinem politischen Engagement und seinen politischen Aussagen ein großes Vorbild, auch für unser Theater. Volkstheater war das damals: Er hat vor viertausend Arbeitern auf Plätzen gespielt, nur mit einem Mikro und das war's, und dazu eignete sich diese Spielform sehr gut, da hat's keinen Aufbau gebraucht und nichts, da war er alleine und hat einfach nur gespielt.




Peter Wayand

Wie bereitet man so ein Ein-Mann-Stück vor? Ich meine, es ist ja so, ihr habt ja keine Requisiten, ihr habt eine leere Bühne, d. h. ihr müsst nichts Großartiges aufbauen, aber ihr braucht trotzdem, denke ich, ein festes Konzept. Wie arbeitet man an so etwas, wie macht man das begreifbar und erfahrbar?

Angelika Sieburg

Also die Basis ist die Imagination. Also, obwohl hier gar nichts ist, wissen wir ganz genau, wo die Berge sind, wo die Täler, wo die Höhle, wo der Eingang, usw. Das ist fast wie ins Nichts eine Skizze vom Bühnenbild gezeichnet. Ich habe jetzt wieder mit vielen Leuten gesprochen und auch der Theaterleiter hat's zum ersten Mal gesehen. Ich habe alles gesehen, meine Phantasie hat wirklich diesen Raum gefühlt, die Tiger, den Soldaten, den Berg, mit dem Himalaya, mit dem grünen Meer. Also ich glaube, wenn der Schauspieler das sehr sehr präzise selbst imaginiert, selbst sieht und sich darauf einlässt, dann überträgt sich das und dann kann der Zuschauer das auch selbst sehen.



Peter Wayand

Ich hatte vorhin im kurzen Gespräch ja auch schon gesagt, Andreas, das ist eine sehr sehr alte Kunst, die ich da bei dir sehe. Es ist ja ein sehr „klassisches“ Schauspiel eigentlich. Vielleicht noch einmal auch die Frage an die Regisseurin: Wenn man so ein Stück besetzt, worauf muss man bei einem Schauspieler besonders achten? Was muss er in besonderem Maß über das normale Können hinaus mitbringen, wenn er so ein Stück macht?

Angelika Sieburg

Hm, da möchte ich ein klein wenig widersprechen, das ist kein klassisches Theater, also in dem Sinne, wie Stanislawski (1863-1938) sein Identifikationstheater macht – das hier ist eben kein Identifikationstheater, das bezieht sich auf die Brecht'sche Art der Verfremdung, also den Abstand zu schaffen, da ist die Geschichte und da ist der Erzähler. Das sind mindestens zwei wenn nicht drei Ebenen, und das, glaube ich, macht das riesige Vergnügen aus. Man braucht einen Schauspieler dafür, der in diesen Ebenen zu springen in der Lage ist, auf dieser Klaviatur sozusagen zu spielen weiß, weil das ist das Vergnügen des Zuschauers. Er weiß nie genau, bin ich jetzt hier im Theater angesprochen, weil ich da sitze und weil ich vielleicht so gucke, ich bin eben eine Lehrerin oder ein Bekannter, bin ich mitten in der Geschichte, oder bin ich in einer Zwischensituation, in einer Art Kommentarebene, und das ist dieses Abenteuer, das lässt uns so mit dem Nichts durch die verschiedenen Ebenen dranbeiben.


Peter Wayand

Sie haben Brecht angesprochen, ich denke, gerade das, was er ja so wollte, was sein episches Moment im Theater war, ist ihm ja eigentlich nie gelungen. Er wollte diesen Abstand haben – Mutter Courage – und das Publikum ist aber mitgegangen. Hier ist das Publikum auch mitgegangen, es ist sogar sehr mitgegangen, die Reaktion war eigentlich sehr kathartisch, obwohl ja genau das, wie in dem Programmzettel zu lesen, eigentlich ja gar nicht gewollt war. Die Katharsis, die wir heute Abend hier erlebt haben, war eine sehr lebhafte und sehr sehr persönliche. Wie erlebst du das auf der Bühne, wie sprichst du dein Publikum an? Wie gehst du mit deren kathartischer Reaktion um?

Andreas Wellano

Erstmal ist es mir nicht bewusst, jetzt haben sie eine Katharsis oder so etwas, sondern ich versuche eben diese Ebenen erstmal zu greifen und wenn's gut läuft, dann merke ich auch an den Reaktionen, ob sie zuhören, ob sie gelöst oder gebannt sind, und dann weiß ich natürlich genau, wenn die Umschwünge kommen. Darauf freue ich mich dann auch schon, bzw. ich muss mich auch schon immer wieder innerlich, gedanklich, spielerisch darauf konzentrieren, dass ich diese Umschwünge auch kriege. Das gelingt nicht immer. Das hängt dann auch von meiner Verfassung ab. Manchmal, wenn ich zu lahm bin, ist das dann eine wahnsinnige Konzentration.

Angelika Sieburg

Oder wenn du zu schnell bist. Man kann auch zu schnell sein, zu getrieben sein, um diese Luft dazwischen, den Raum dem Zuschauer zu geben, sich einzuklinken. Jedes Publikum ist auch anders. Also wir sagen immer, diese Zuschauerenergie ist unglaublich interessant und wichtig, also was da reingegeben wird an Offenheit, an Zuschauen, an Verstehen, an Goutieren, an Lachen oder Pause machen, oder Atem anhalten, dass ist diese lebendige Kommunikation.



Peter Wayand

Wie hast du dich auf diese Rolle vorbereitet? Es ist ja nun ein immens großer Text. Ich weiß jetzt natürlich nicht, da ich das Stück nicht als Text kenne, ob es wirklich alles so genau festgeschrieben ist oder ob da auch viel von dir hinzukommt, aber wie bereitet man sich auf diesen Text vor und wie bereitet man sich auf diese Darstellung zum Beispiel des Tigers vor, der ja nun kein Mensch ist in diesem Sinn?

Andreas Wellano

Hm, also da gibt es eine schöne Geschichte: Da bin ich wirklich in den Zoo gegangen und habe mir Tiger angeschaut und hatte das große Glück, dass – es war spät abends kurz vor Toresschluss – ich wirklich ganz nah an den Tiger herankam. Ich habe den sogar berührt, so ganz, ganz kurz, (lacht) und habe diese Kraft gespürt, oder diese Angst oder eher Furcht, wie klein ich gegenüber diesem großen Tier bin. Wenn der sich aufgerichtet hat, war der zwei Meter über mir. Das war die eine Geschichte; da waren auch noch Junge drin, also ich habe die ganze Palette mitgekriegt. Dann viele Improvisationen, die wir gemacht haben, Aufgaben wie „Stell dir das vor ...“ oder so etwas; in den Anfängen: Wie sieht die Höhle aus? D. h. wir arbeiten, seit wir das machen, immer wieder daran, es wird nie abgespult, und es ist manchmal auch quälend, weil man denkt, also das kann ich doch jetzt. ich glaube, das ist die große Schwierigkeit bei dem Stück, der Text ist ja kein Shakespeare oder so, kein schwieriger Text, sondern du musst den auch immer wieder für dich neu entdecken und neu füllen. Und diese eigentlich einfachen Situationen, wenn ich die für mich entdecke, dann entdeckt sie das Publikum auch.



Peter Wayand

Der Text ist jetzt natürlich von 1984, glaube ich, …

Angelika Sieburg

… noch früher, 1970er Jahre …



Peter Wayand

.. noch früher also. So ein Text benötigt ja, wenn man ihn dreißig, vierzig Jahre später spielt, eine Modernisierung. Inwiefern hat der Text eine Modernisierung erfahren, inwiefern war diese notwendig und inwiefern hat es auch Spaß gemacht, die einzuarbeiten?

Angelika Sieburg

Ich glaube, die Modernisierung geht nicht über den Text. Also der Text, das würde ich wirklich sagen, ist ein Klassiker geworden. Das war mir damals Anfang der 1980er Jahre, wie wir das begonnen haben, nicht klar. Jetzt, glaube ich, ist es wirklich ein Klassiker, weil es auf so vielen Ebenen stattfindet. Ob das jetzt diese menschliche familiäre Beziehung ist, ... Es ist ein Märchen, es ist natürlich diese politische Ebene von Hierarchien da und immer noch das Problem: Da oben sind die Entscheider, wo ist die Basis? Die Basis, das Volk, wird sehr sehr schnell übergangen und als Stimmvolk nur benützt, und oben stehen die, die also sagen wollen, wo es langgeht, und das ist immer noch voller Sprengstoff und voller Humor natürlich. Also ich glaube, es ist eine Art von Timing. Wir sind schneller geworden, also wenn man nun alle Sehgewohnheiten, also ob das nun in den Medien oder sonst wo nimmt. Es ist hauptsächlich die Frage des Timings und dieser Ebene, die direkt an den Zuschauer geht. Sich so direkt vor dem Zuschauer zu setzen und zu sagen „Ich erzähl' dir was, ich bemerk' dich, du bist da, ich nehm' dich mit und ach, da fällt mir noch was anderes ein, und kannst du eigentlich italienisch, kannst du chinesisch?“, also diese klare Ansprache, diese Direktheit, diese wirkliche Kommunikation, das hätten wir damals nie gewagt. Das ist das Moderne: es ist die Art, wie wir erzählen. Die ist jetzt neugegriffen und die ist, finde ich, sehr zeitgemäß. Der Zuschauer will gerne angesprochen sein. Es ist nicht mehr so diese Trennung, da oben sind die Künste und da unten sitzt irgendwo im Dunklen der Zuschauer. Also diese wirkliche Konfrontation, sich sehr sehr dem auszusetzen, und zu sagen: „Hallo Zuschauer, ich bin da, wir machen uns heute einen schönen Abend und ich hab' was vorbereitet.“



Peter Wayand

Der Erfolg gibt euch recht. Stehende Ovationen, sehr viel Applaus, die Leute haben sehr viel gelacht. Das war ja auch eine von Dario Fos Forderungen, dass der Mensch das Ganze mit Humor nehmen muss, dass die Komödie, die er ja als besondere Form, als besondere Gattungsform erlebt hat und für sich entdeckte, dass diese Komödie das auch transportieren kann. Eine letzte Frage noch, und zwar, wie wird’s weitergehen? Wie oft werdet ihr das noch spielen? Habt ihr schon Pläne, was vielleicht als nächstes Soloprogramm ansteht, oder seid ihr jetzt nur auf das Stück fixiert und macht das ein paar Wochen oder ein paar Monate? Wie sieht die Zukunft aus?

Angelika Sieburg

Ja, es bleibt jetzt im Repertoire. Es ist neu ins Repertoire in dieser veränderten Fassung gekommen. Für's nächste Jahr sind zwei größere Produktionen mit anderen Leuten gedacht, aber Andreas hat Lust auf ein neues Solo, das wir kreieren werden, aber das wird nicht vor 2016 gegriffen. Es ist auch sehr schön, weil ich zum Beispiel ein Ensemblemensch bin, ich arbeite sehr sehr gern in großen Ensembles, und Gott sei Dank wird Andreas da dann auch mitmachen. Also das nächste Jahr ist geplant, wobei immer wieder die Tigerin, also das Solo, dazwischen stattfinden wird.

Andreas Wellano

Ja, auch der Karl May noch. Natürlich.



Peter Wayand

Übrigens, finde ich, ist das nach wie vor immer noch das beste Stück, das zu Karl May in den letzten Jahrzehnten gekommen ist. Großes Kompliment auch noch einmal an Birgitta Linde, vielleicht kannst du das weitergeben, da ich immer noch total begeistert von dem Stück bin. Ja, dann sage ich vielen Dank. Ich wünsche viel viel Erfolg für die nächsten Aufführungen, und ihr werdet dieses Interview in dieser Aufnahmeform, wenn sie etwas geworden ist, mit Sicherheit zu hören bekommen. Ich bedanke mich und sage bis bald. Ich hoffe auf die nächste Premiere.

Angelika Sieburg/Andreas Wellano

Danke vielmals, auf Wiedersehen. War schön, danke. Schöne Fragen.


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