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„Eine wahre Zitzerei“ – Andreas Wellano in Dario Fo's „La storia della Tigre“


Ein Schauspieler, eine leere Bühne, kaum unterstützendes Bühnenlicht, keine Requisiten und ein abendfüllendes Theaterstück, kann das gutgehen? Es kann – und wie! So geschehen am Abend des 4. Dezembers 2014 im freien Theater in den Landungsbrücken in Frankfurt am Main (=> Homepage). Das, was Andreas Wellano (*1948; => Homepage) in Zusammenarbeit mit der Regisseurin Angelika Sieburg als Gastspiel des Wu Wei Theaters (vgl. Büro für freies Theater, Frankfurt) anbot, war ein ziemliches Wagnis, aber dennoch ein wohlüberlegtes. Die Premiere des Klassikers „La storia della Tigre“ (1977, dtsch: „Die Geschichte einer Tigerin“) des Literaturnobelpreisträgers Dario Fo (*1926; => Homepage), die Wellano das erste Mal Anfang der 1980er Jahre in Berlin von Fo selbst gespielt gesehen hatte, geriet – trotz leider sehr geringer Zuschauerzahl – zu einem vollen Erfolg, der den Ausnahmeschauspieler nach dem Schlussapplaus immer wieder auf die Bühne zurückholte.

Wenn es heißt, dass das Theater aus der Mode gekommen sei, wenn sich Theaterpädagogen und Kulturpädagogen endlose Gedanken darüber machen, wie man die Jugend wieder ins Theater bekommt, wenn allerortens eine Zweiklassengesellschaft propagiert wird, wenn in unserer heutigen Zeit der Roman als die Königsdisziplin gefeiert wird, wenn wir in Monographien und Anthologien kaum noch Lyrik, kaum noch Theatertexte kaufen können, weil der Markt uns sagt, man könne damit kein Geld verdienen, wenn allerortens der Niedergang des Buches propagiert wird und sogenannte iBooks einen Boom erleben, so bedenkt man schlicht und ergreifend eine ganz wichtige Sache nicht: es geht in allen Texten, die geschrieben und gelesen werden, sei es nun Lyrisches, Episch-Prosaisches, Dramatisches, Szenisch-Dialogisches oder etwas Experimentelles, doch nur um eins, das Erzählen. Es wird etwas erzählt, im besten Fall eine Geschichte oder ein Gedankenstrom. Damit wollen die, die diese Geschichten erzählen, denen, die zuhören, etwas vermitteln, etwas klarmachen, ins Bewusstsein rufen.

Dieses Erzählen, diese Kunstform, ist eine sehr alte. Im Orient waren es Hakawatis, die stundenlang Legenden, Sagen und Geschichten erzählten. Im Okzident waren es zunächst die Priester, Gelehrten, aber auch alte Menschen, die Großmütter und Großväter, die zu erzählen wussten, die der Jugend, ihren Nachwuchs, mit ihren Erzählungen etwas beibringen wollten. Dabei kleideten sie ihre Inhalte um des besseren Verständnisses willen in schöne Gewänder, in leicht nachvollziehbare Handlungen.




Natürlich ist da, wo viel Licht ist, auch viel Schatten, und entsprechend gab es auch einen Missbrauch des Erzählens. Demagogen und Propheten nutzten die Macht des Wortes, die Kraft der Erzählungen, der Kopfkinobilder, um ihre politisch-ideologischen und religiösen Ideen zu verbreiten.




Das wirkliche wahre Erzählen beherrschen heute nur noch sehr wenige. Der moderne Mensch ist eher audio-visuell ausgerichtet. Andreas Wellano jedoch beherrscht dieses Erzählen. Er braucht kein großartiges Kostüm, keine ausgefeilte Maske, keine raffinierte Lichttechnik, keine unterstützende und stimmungsheischende Musik, nein, er erschafft gleich einem Magier Illusionen von ganzen Armeen, von atemberaubenden exotischen Landschaften, ja sogar von leibhaftigen Raubtieren im Kopf und vor den Augen seines Publikums. Er ist ein großartiger Hakawati des Theaters.




Fo erzählt die Geschichte eines chinesischen Soldaten, eines Revolutionskämpfers der Ära Chiang Kai-sheks (vgl. den chinesischen Bürgerkrieg 1927-1949), der aufgrund einer Verletzung von seinen Kameraden zum Sterben zurückgelassen wird und in einer Höhle auf wundersame und sehr abenteuerliche Weise Freundschaft mit einer Tigerin und ihrem Jungen schließt, deren Milch er trinken muss („eine wahre Zitzerei“), deren Speichel seine Wunden heilt und der er beibringt, gebratenes Fleisch zu fressen. Die Tigerin und ihr Junges werden zur Familie des Soldaten, die er bis zu Ende verteidigt und mit deren Hilfe er alle Feinde in die Flucht schlagen kann, inklusive der alles überwachenden und dominierenden Partei.




Dario Fo: „Wahres Volkstheater ist immer lustig, auch wenn es ernste Themen behandelt. Satire ist die Waffe des Volkes, sie ist der höchste Ausdruck des Zweifels, die wichtigste Hilfe der Vernunft. Wenn man politisches Theater schreiben will, darf man nicht Essays und Kommentare schreiben, sondern man muss unterhaltend sein, sonst dient man weder dem Theater noch der Politik. Von allen Theaterformen ist die Komödie die am effektivsten. Eine Tragödie zielt auf das Herz und auf die Tränen, aber wenn die vergossen sind, ist die Wirkung vorbei. Eine Komödie dagegen funktioniert über das Lachen und das Erkennen, also über den Kopf, damit kann man mehr und Nachhaltigeres bewirken als mit einer abstrakten Katharsis.“ (Quelle: Programmzettel des Wu Wei Theaters)
Fo erzählt seine Geschichte als Comic-Komödie, deren politische Subtexte erfreulich offen sind, aber Wellano erzählt nicht einfach nach, er (be)lebt diese Geschichte seinem Publikum vor. Er spielt jede Rolle selbst und formt dabei mit extraordinärer Gestik und Mimik und einem schier unglaublichen Stimmeinsatz das Bild jeder einzelnen Figur so genau, dass man sie malen könnten. Er lacht, weint, wimmert, stöhnt, humpelt, hinkt, schreit, brüllt, flüstert, schneidet unsägliche Grimassen, turnt, läuft, springt, bewegt sich rückwärts, kriecht, krabbelt, singt usw. Das ist die Königsdisziplin des Schauspielers, das malerische Gestalten von Figuren und Charakteren, das Erschaffen einer Atmosphäre und einer Stimmung, die den Zuschauer nicht loslässt und wie gebannt an den Lippen des Meisters – denn das ist Wellano in Reinkultur – hängen lässt.




Endlich einmal kein überspanntes, kryptisches Regietheater, kein rein auf ein intellektuelles Publikum ausgerichtetes Sammelsurium subversiver Anspielungen und pornographischer Elemente, die durch das Prädikat „Kunst“ eine eher doppeldeutige Rechtfertigung erfahren, sondern ein sehr humorvolles, dennoch nicht unkritisches Stück Einzeldarbietung der Sonderklasse. Die wenigen Zuschauer – es waren zirka fünfundzwanzig – waren begeistert. Wellano interagierte mit seinem Publikum, das beständig heiter war und lachte, zog es in seine Geschichte hinein, ließ es zu Zeugen all der Dinge werden, die der Soldat erlebte, und das Publikum interagierte mit ihm.




Der Applaus ist der verdiente Lohn des Schauspielers – so auch hier. Stehende Ovationen am Ende, glückliche, fröhliche Gesichter, Lobeshymnen bis zum Abwinken und die obligatorischen Blumen fehlten auch nicht. Viele blieben auch zur anschließenden kleinen Premierenfeier, um mit Wellano und Siegburg gebührend auf diesen Erfolg anzustoßen. Bleibt nur zu hoffen, dass wir noch viel, viel mehr und öfter so etwas erleben dürfen, denn diese Art Theater, das sei mir abschließend noch gestattet anzumerken, wäre ein Gewinn für die Schulen und unserer Schülerinnen und Schüler. Dort müsste es gezeigt werden. Aber wer weiß, vielleicht ist das ja schon in der Mache.

Ein ausführliches Interview zum Stück mit Angelika Sieburg und Andreas Wellano finden Sie hier.


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