Zugegeben, die Trailer, die Werbekampagne und die Aussicht, zwei meiner absoluten Lieblingsschauspieler, nämlich
Patrick Stewart (*1940) und Sir
Ian McKellen (*1939) wieder einmal vereint in Aktion zu erleben, hatten mich ziemlich heiß gemacht auf den neuen X-Men-Streifen, so heiß sogar, dass ich mir prompt eine Karte für die Vorpremiere besorgte. Und obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, ohne allzu große Erwartungen ins Kino zu gehen, gelang mir das nicht wirklich; immerhin ist es der nunmehr siebte (sic!) Film, der sich innerhalb der
X-Men-Reihe („
X-Men“ (2000),
X-Men 2“ (2003), „
X-Men: Der letzte Widerstand“ (2006), „
X-Men: Erste Entscheidung“ (2011)) – oder sollte ich sagen, des X-Men-Franchises? – auf der großen Leinwand präsentiert, oder der Fünfte, wenn man die Spin-offs „
X-Men Origins: Wolverine“ (2009) und „
Wolverine: Weg des Kriegers“ (2013) nicht mitzählen mag, aber in die ewige Diskussion um die Spin-offs möchte ich hier nun nicht einsteigen.
Doch wie fängt man am besten an, etwas über diesen Film zu sagen, ohne allzu einseitig zu werden? Am besten wohl mit spontanen Eindrücken wie opulent, bildgewaltig, surreal und natürlich metaphorisch bis zum Äußersten. Vordergründig ein Actionfilm, aber bei genaueren Hinsehen eine zutiefst philosophische Dystopie mit Plagal- oder sogar einem Trugschluss.
Das beginnt schon beim Titel. Im englischen Original heißt der Film „
Days Of Future Past“ (=>
Homepage), was man sinngemäß übersetzen müsste mit
„Tage der zukünftigen Vergangenheit“, ein wunderbares Oxymoron, das einem William Shakespeare alle Ehre gemacht hätte, das man allerdings in der deutschen Version zu
„Zukunft ist Vergangenheit“ verkommen lässt und welches den eigentlichen Sinn des Plots nicht wirklich zu fassen vermag.
Worum geht es? Der Film basiert auf zwei sich diametral entgegengesetzten und sich grundlegend widersprechenden Theoremen über das Phänomen Zeit: Was ist Zeit? Wie haben wir uns Zeit vorzustellen? Ist Zeit beeinflussbar oder statisch? Können wir auf unsere Zukunft Einfluss nehmen oder sind wir doch nur Marionetten in einem großen übergeordneten Plan des Schicksals, dem wir einfach nicht entkommen können?
Genau dazu hatte ich vor kurzem erst eine
These zum Thema auf diesem Blog aufgestellt – merkwürdig, wie man manchmal der eigenen Zeit voraus sein kann, oder habe ich einfach nur denselben Gedanken und dieselbe Überlegung angestellt, wie viele andere auch schon? Hm, dann wäre meine Vergangenheit in gewisser Hinsicht ja auch die Zukunft, oder sollte ich besser sagen, ich hätte zukünftige Tage in meiner Vergangenheit erlebt? Sei's drum. –
Die erste These geht davon aus, dass die Zukunft beeinflussbar, abänderbar, korrigierbar ist, denn sie entsteht als Folge dessen, was jemand tut, oder wofür er sich entscheidet. Ändert man diese Tat oder Entscheidung, ändert sich auch die Zukunft. Die Science-Fiction-Literatur hat das schon früh zum Thema vieler Romane, Erzählungen und Filmhandlungen gemacht und es ein Zeitparadoxon oder
Großvaterparadoxon genannt (vgl. hierzu auch meine Rezension zu
Star Trek: Into Darkness auf diesem Blog). Die zweite These behauptet schlicht und ergreifend, die Zeit sei vergleichbar mit einem Fluss, der immer in dieselbe Richtung fließt, woran man nichts ändern kann. Man könne zwar etwas in den Fluss hineinwerfen, ihn sogar stauen, aber alles, was man erzeuge, seien nur Wellen, aber an der grundsätzlichen Richtung und Bestimmung des Flusses könne man nichts ändern.
Die Handlung beginnt in einer dystopischen Zukunft der Menschheit, wo die Mutanten systematisch durch Sentinels, riesige Roboter, die durch ein bestimmtes, auf der Gentechnik basierendes Waffensystem die jeweiligen Fähigkeiten eines Mutanten völlig assimilieren können, wodurch sie immun dagegen werden und den Mutanten vernichten können. Ein sichtlich gealterter
Professor Charles Xavier mit einem ebenso sichtlich gealterten Eric Lehnsherr alias
Magneto an seiner Seite (Stewart und McKellen in ihren Glanz- und Paraderollen) stehen mit nur noch wenigen verbliebenen Mutanten kurz vor der totalen Vernichtung. Sie schicken daher Logan alias
Wolverine (
Hugh Jackman (*1968)) in die Vergangenheit, um an der Stellschraube der Zukunft zu drehen, und das Übel abzuwenden. Diese Stellschraube ist Raven Darkholme alias
Mystique (
Jennifer Lawrence (*1990)). Sie hat den Wissenschaftler
Bolivar Trask (
Peter Dinklage (*1969)), der die Sentinels erschaffen hat, umgebracht, was diese Negativzukunft ausgelöst hat.
Das Phänomen der Zeitreise wird hier nicht in Form einer technischen Apparatur gelöst, einer Zeitmaschine gewissermaßen, nein, es wird durch eine Mutantenfähigkeit herbeigeführt. Kitty Pryde alias
Shadowcat (
Ellen Page (*1987)) kann einen Geist vom Körper lösen und durch den Zeitstrom schicken. Der Geist des Betroffenen erwacht dann im Körper seines jüngeren Selbst – wohin der Geist des jüngeren Selbst während dieser Prozedur ausweichen muss oder verdrängt wird, bleibt dabei unklar. Diese Form der Mutation kennen deutsche Science-Fiction-Kenner bereits aus der
Perry-Rhodan-Serie (=>
Homepage), in der Anfang der 1960er Jahre der deutsche
Teletemporarier Ernst Ellert auftaucht, der seinen Geist von seinem Körper trennen und damit in Vergangenheit oder Zukunft reisen kann.
Bei den X-Men wird die ganze Sache allerdings dadurch erschwert, dass der menschliche Geist nur über einen relativ begrenzten Zeitraum versetzt werden kann, ansonsten wird er zerstört. Logans Mutation der spontanen Selbstheilung bietet die Lösung dieses Problems, wobei die Begründung der Erweiterung seiner Mutation, die sich bisher nur auf seinen Körper bezog, nicht klar wird beziehungsweise völlig fehlt.
Logan schafft die Zeitreise und muss mit den bereits aus
„X-Men: Erste Entscheidung“ bekannten jüngeren Ichs von Xavier (
James McAvoy (*1979)) und Lehnsherr (
Michael Fassbender (*1977)), Hank McCoy alias
Beast (
Nicholas Hoult (*1989)) und dem an „
The Flash“ („Roter Blitz“) erinnernden Mutanten Pietro Maximoff alias
Quicksilver (
Evan Peters (*1987)) ein entsprechendes Zeitparadoxon herbeiführen, was, wie zu erwarten, in einem von menschlichen Befindlichkeiten ebenso wie von äußeren Einflüssen und Feinden bestimmten äußert actionreichen Feldzug endet, in dem die Helden alles geben, was ihnen zur Verfügung steht und was in ihren Möglichkeiten steht. Natürlich gelingt der auf zwei Zeitebenen geführte Kampf, alle Opfer, die erbracht worden sind, alle Tode, die gestorben wurden, haben nie stattgefunden, sind also nie passiert, und der Einzige, der die Erinnerung an alle Vorgänge behält, ist Logan. Alles auf Anfang, alles auf das Stadium des ersten X-Men Films zurück, die Zukunft war nur eine Illusion, eine Erinnerung, die verblasst, eine Blitzlicht auf Tage, einer zukünftigen Vergangenheit, die aber ganz anders gestaltet werden können, wenn man sich der Folgen des eigenen Handelns und Tuns bewusst ist. Die zentrale Aussage ist hier überdeutlich: Der Mensch ist verantwortlich für seine Zukunft und seine Nachfahren!
Natürlich war der Film, bei dem
Bryan Singer (*1965) nach einem Drehbuch von
Simon Kinberg (*1973) zum dritten Mal für das X-Man-Franchise Regie führte, technisch brilliant gemacht, die Bilder waren durchweg stimmungsvoll, der Drahtseilakt zwischen Dystopie und Utopie wurde genial gemeistert und trotzdem kam ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge aus dem Kino. Ich bin mir selten so unsicher gewesen, ob ich das Gesehene mögen oder ablehnen soll, ob ich himmelhoch jauchzend den Film besprechen oder zu Tode betrübt nur darüber schweigen muss. Woran das liegt, lässt sich nur schwer beschreiben. Zum einen ist das längst keine normale Comic-Verfilmung mehr, die einfach nur bunt und schillernd daherkommt, um ein Superheldenmärchen zu erzählen. Zum anderen ist der Plot philosophisch so überladen, dass es ungeheuer anstrengt, ja fast schon schmerzt, wenn man auch nur einen der möglichen Fäden der interpretatorischen Möglichkeiten aufnimmt, von dem moralisierenden Zeigefinger, der ständig auf die Verantwortung des Menschen für die Welt und die Mitmenschen zeigt, einmal ganz abgesehen.
Dieser siebte X-Men-Film wird polarisieren, ganz extrem wird er die Geister scheiden. Singer hat bewiesen, dass Intelligenz, Intellektualität und Action keine unvereinbaren Gegensätze sein müssen, aber die Frage sei erlaubt, ob das Publikum das so nachvollziehen können wird. Und wer weiß, vielleicht sind wir ja in unserer Realität, die wir für wirklich halten, ebenso Opfer einer entsprechenden Zeitdialation und wissen es nur nicht ... – die Zukunft wird es weisen – oder auch nicht.
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