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Burton meets Tolstoi – Anna Karenina surreal

Ach, es ist das doch immer wieder eine wahre Krux mit diesen Literaturverfilmungen. Allein in dem Wort steckt schon ein Paradoxon: Literatur ist etwas zum Lesen, etwas, das während des Vorgangs des visuellen Erfassens, als welches ich das Lesen beschreiben möchte, in der Phantasie des Lesenden entsteht und mit der er sich sozusagen eine eigene Welt kreiert. Dieses Phänomen unterliegt keiner zeitlichen Einschränkung und es ist absolut subjektiv. Das einzelne Individuum erschafft sich eine jeweils einmalige Welt, die nicht kopierbar oder vergleichbar mit der Welt ist, die sich das nächste lesende Individuum erschafft.

Der Film als Medium ist etwas völlig anderes. Er unterliegt zeitlichen Beschränkungen, die eine gewisse Erzählgeschwindigkeit bedingen, was wiederum zu einer erzwungenen Selektion und Reduzierung der Handlung führt. Außerdem werden dem Zuschauer die Bilder der Vorstellungswelt einer Person aufoktroyiert. Es bleibt wenig Platz für die eigene Phantasie.

Bringt man nun beides zusammen, in dem man Literatur verfilmt, so darf man von vornherein einen Fehler nicht machen: man darf auf keinen Fall den Film mit dem Buch vergleichen! Tut man das, wird man immer in irgendeiner Art und Weise enttäuscht sein und eine Unmenge an Dingen finden, die nicht so umgesetzt wurden, dass man als Leser damit zufrieden ist. Denn kein Regisseur kann individuelle Vorstellungen toppen, die man sich beim Lesen selbst erzeugt. Das ist auch gar nicht die Absicht eines Regisseurs. Ebenso verhält es sich mit der Vollständigkeit eines umfangreichen Romans, der von dem, was alles erzählt werden müsste, wohl kaum in die bekannten Grenzen von 90 bis 120 Minuten zu pressen ist.

In diesem Fall geht es um Leo Tolstoi's (1828-1910) unglückliche Anna Karenina, und sogleich wird der geneigte Leser begreifen, warum diese ausführliche film- und literaturtheoretische Vorrede nötig war. Kurz zum Roman: Anna Karenina, das achtteilige Romanepos, entsteht zwischen den Jahren 1873 und 1878 mitten im sogenannten russischen Realismus, und wird 1887/88 erstmals veröffentlich. Tolstoi spiegelt unter Zuhilfenahme autobiographischer Erfahrungen die zaristische Gesellschaft der Mitte des 19. Jahrhunderts und zeigt die falsche und verlogene Moral in Sachen Liebe und Ehe auf. Ein monumentales Werk – ein Konglomerat an Themenfeldern.

Im letzten Jahr lief am 6. Dezember in Deutschland eine nagelneue britische Verfilmung an, die der Regisseur Joe Wright (*1972) mit den großartig agierenden Hauptdarstellern Keira Knightley, Jude Law und Aaron Taylor-Johnson auf die Leinwand gebracht hatte. Es ist meines Wissens nach die 13. Verfilmung seit 1914, und ich hatte sie mir gestern Abend im Rahmen der Reihe „Der besondere Film“ im Kino in Montabaur angesehen.

Ich muss sagen, ich war zunächst verwirrt, hatte ich doch nicht mit einer filmischen Liebeserklärung an die Arbeiten von Tim Burton gerechnet, die sich auf verblüffende Weise mit den Verfremdungseffekten eines brecht'schen Theaters mischte. Alles wirkte ziemlich surreal – eine surreale Verfilmung eines Realismus-Stoffes?

Wright legt den Film als großes Theaterstück an, als Bühnenstück, das durch die Kamera nur beobachtet, selten auch kommentiert wird. Dabei spielen alle Schauplätze irgendwie auf einer einzigen Bühne, die gedreht, gewendet, ausgeblendet, eingeblendet wird, was ein extrem hohes Erzähltempo provoziert. Der Zuschauer ist auch wirklich der Zuschauer des Geschehens. Die Figuren bewegen sich scheinbar wie selbstverständlich aus einer Kulisse in die nächste und überwinden so problemlos riesige Entfernungen. Aber bei allem Tempo hetzt Wright keineswegs durch die Handlung, nein, er 'seziert' und reduziert vor allem den Roman auf das Allernotwendigste, auf die pure Geschichte der Anna Karenina, auf die Gefühle, die sie bewegen, die sich immer mehr verdichten und in Form von Gewissensbissen, die durch die Reaktionen ihres Umfeldes und der sie umgebenden Gesellschaft verstärkt werden, und die sich letztlich wie eine Gewitterwolke drohend über ihr zusammenziehen und sie in den Selbstmord treiben. 

Wird diese Form der Darstellung der Figur gerecht? Das ist hier wohl die entscheidende Frage. Sind die komischen Momente der Eingangssequenzen, die zum Lachen reizen, das kaleidoskopartige aufgesetzte übertriebene Schauspiel der Statisten und Nebenrollen ein sinnvolles Mittel, um die zeitlose Botschaft, die zweifelsohne immer noch in Tolstoi's Roman steckt, zu transportieren?

Die Darstellung der Hauptrollen wird mit jeder Sekunde immer intensiver. Sind die Dialoge zu Beginn noch banal und sehr kurz, so wachsen Keira Knightley, Jude Law und Aaron Taylor-Johnson in ihrem Spiel immer weiter in eine hautnahe Charakterdarstellung hinein, die erst ihr wahres Können und ihre Meisterschaft zum Vorschein bringt.

Wahrlich keine leichte Kost also, der Schwere der Romanvorlage durchaus angemessen. Allerdings insgesamt auch sehr gewöhnungsbedürftig und mit einigen Längen versehen, was den Film in der Tat zu einem 'besonderen' Film werden lässt, dem ein zahlreicheres Publikum zu gönnen gewesen wäre. Aber es waren nur wenige, die sich das 'antaten' und die, die dort saßen, waren alle älteren Datums und entweder Literaturliebhaber oder solche, die sich von Berufs wegen damit befassen.

Denken Sie einmal darüber nach.

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