Kommentar zur Premiere von Anatevka in Wiesbaden am 31.03.2012
„Jeder von uns ist ein 'Fiedler auf dem Dach'. Jeder versucht, eine einschmeichelnde Melodie zu spielen, ohne sich das Genick zu brechen.“, so äußert sich der Milchmann Tewje im Prolog zum ersten Akt des Musicals 'Anatevka', das im englischen Original auch den Titel „Fiddler On The Roof“ (Geiger/Fiedler auf dem Dach) trägt. Und dieser Satz zog sich am Samstagabend wie ein roter Faden durch das Geschehen auf der Bühne im großen Haus des Staatstheaters Wiesbaden und rot war ja auch die Gewandung des Geigers, der an entscheidenden Stellen des Stücks immer wieder seine kleine klagende Melodie, mit der er geschickt das Geschehen kommentierte, zum Besten gab.
Der roten Faden – der rote Geiger – eine Allegorie auf den modernen Menschen im Gewand des heraufdämmernden 20. Jahrhunderts vor der großartigen Kulisse des vorrevolutionären Russlands und des Schicksals der Juden in aller Welt, das am Beispiel der jüdischen Bevölkerung des ukrainischen Dorfes Anatevka verdeutlicht werden soll?
Jedenfalls erlebte die Gruppe von zweiundfünfzig Schülerinnen, Schülern, Lehrerinnen, Lehrern, Ehemaligen und Freunden, die sich aus Höhr-Grenzhausen zu dieser Theaterfahrt aufgemacht hatten, ausnahmsweise mal keine Regietheaterarbeit, wie in den vorangegangenen Inszenierungen, die man besucht hatte, sondern eine absolut klassische Inszenierung, die gerade wohl deswegen einen besonderen Reiz auf alle ausübte.
Lag es nun daran, dass es sich um ein Gastspiel des Staatstheaters Darmstadt handelte, lag es daran, dass die Kulisse eine wundervolle Komposition von Farben, Dekorationen, Requisiten und Bauten darstellte, die in ihrer erdfarbenen Grundstimmung das Geschehen reizvoll unterstützte, oder lag es an der dem Stück innewohnenden Komik, jedenfalls erzeugte die gesamte Darbietung ein wunderbar warmes Gefühl, das selbst dem traurigen Schluss etwas durchaus Versöhnliches abzugewinnen im Stande war.
Also eine Tragikomödie wie aus dem Lehrbuch? – Der rote Geiger, nicht nur der rote Faden, sondern auch der Blutstropfen, der auf die braune Erde fällt?
1965 von Joseph Stein, Sheldon Harnick und Jerry Bock erdacht, ersonnen, getextet und komponiert, kommt dieses Musical ganz konventionell daher, eigentlich viel zu konventionell für die Entstehungszeit. Die Art und Weise, mit dermaßen leisen, traurigen Tönen ein Musical zu beenden, rückt es in die Nähe von Leonard Bernsteins West Side Story.
Aber ist das ein Manko? – Ist es minderwertig, weil es Evergreens produziert hat, die die Spatzen heute noch von den Dächern pfeifen? – Ich denke, es entfaltet gerade darin seine Genialität und Bedeutung. Niemals zuvor wurde auf derart drollige Weise die Frage nach der Liebe gestellt oder dem Wunsch, reich zu sein, Ausdruck verliehen. – Und die Zwiegespräche Tewjes mit seinem Gott erinnern in ihrer Art stark an Giovannino Guareschi's Don Camillo und Peppone.
Natürlich gab es – wie bei allen Live-Events – ein paar Pannen. So war die Tontechnik nicht wirklich auf Zack, denn die Schauspieler waren stellenweise – wenn überhaupt – nur sehr schlecht zu verstehen, vor allem in ihren Gesangspartien, die oftmals vom Klang des sehr ordentlich aufspielenden Orchesters überlagert wurden. – Konnten die Stimmen sich nicht gegen den wuchtigen Klang durchsetzen oder vermochte die Orchesterleitung es einfach nicht, den Klangkörper in seiner Dynamik entsprechend zu drosseln? –
Entschädigt wurde man für diese technischen Pannen allerdings durch absolute Klangausnahmen, wie ein Akkordeon Bajan, ein russisches, chromatisches Knopfgriffakkordeon, welches sich elegant in den Orchesterklang einfügte und herrliche Solopartien vorlegte. Auch durch solche Originalinstrumente erzeugt man ein gewisses Feeling für landestypische Stimmungen.
Letztlich bleibt noch der Bildungswert der Inszenierung zu erwähnen. Dieses Stück ist ein Paradebeispiel dafür, wie man Wissen über eine Weltreligion – in diesem Fall das Judentum – auf humorvolle, witzige und sehr drollige Art und Weise rüberbringt, eigentlich ist das Stück ein Muss für alle Religionspädagogen: Tief ergreifend die Pesachszene, das Abendmahl, bei dem jeder willkommen ist, selbst der Fremde – ein einfaches Mahl am Tisch des Herrn.
Das Leitmotiv der Tradition, welches sich durch das ganze Stück zieht, wird kritisch hinterfragt, das sich Auflehnen gegen Althergebrachtes, Konservatives, wird mit dem Heraufdämmern einer neuen Zeit erklärt, mit dem Wandel, dem Umbruch, dem sich vor allem die Jugend so gerne anschließt, wenn sie mit vorhandenen, gewohnten Konventionen bricht und sogenannte große Ideen entwickelt. Verpackt wird diese Thematik in die Irrungen und Wirrungen junger, sich anbahnender Liebe und Ehe.
Am Ende steht der Abschied, wie an jedem Ende – aber kein Abschied für immer, wenngleich er durch die Obrigkeit erzwungen wird. Und darin liegt ein weiterer großer Wert dieses Stücks, den diese Inszenierung so wundervoll herausgearbeitet hat, nämlich, dass jedem Abschied auch ein Neuanfang innewohnt.
Solches Theater macht Lust auf mehr, mehr von der klassischen Art des Theaters nämlich. Denn dieses mahnende Wort sei am Ende dieser kurzen Betrachtung gestattet: Wenn sich die Theater in Deutschland weiterhin auf künstlerisch sicher sehr wertvolle Regietheaterarbeiten beschränken, machen sie nur noch Theater für einen sehr klein gewordenen Kreis besonderer Liebhaber und Intellektueller. Wenn Theater aber wieder etwas werden soll, was alle Menschen anspricht, so muss Theater auch für alle verstehbar gemacht werden, es muss zum Event werden, bei dem die Leute sagen „Das war toll, da gehen wir gerne wieder hin!“ und nicht „Das war langweilig, ich hab' ja nichts verstanden.“ Und das erreicht nun einmal eine Regietheaterarbeit selten, so etwas kann nur das klassische, traditionelle Theater bewirken. Alles gewürzt mit einem Spritzer Humor und einer Handvoll Bildung kann – wie an diesem Abend bewiesen – die eigentliche Zukunft des Theaters sein.
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